Eine Theorie, die manchen amerikanischen Progressiven als eine Art entlastender Kult dient, besagt, hinter dem farblosen, freundlichen Äußeren und dem dicken Dunst aus Plattitüden verberge sich eine glühende progressive Feministin. Sobald sie schließlich genügend Macht angehäuft habe - sagen wir, in ihrer zweiten Amtszeit - werde sie sich hervor wagen und die Welt retten.
Aber Hillary Rodham Clinton war immer eine Gemäßigte, die sich auf mittige, technokratische Ansichten festlegte. Zeitlebens glitt sie in Schlüsselfragen mühelos von einer Seite zur anderen - etwa bei der Todesstrafe oder bei Sozialleistungen für arme Frauen und deren Kinder. Dabei bewahrte sie stets jene subtile Selbstgerechtigkeit, die ihr vermutlich ihr methodistischer Gott gewährte.
Er bildete das Es und sie das Über-Ich. Das genoss sie sichtlich
Das Rätsel Hillary Clinton erklärt Biograf Carl Bernstein weitgehend über ihre gespannte Beziehung zu Bill. Als sie sich kennen lernten, war Hillary eine einigermaßen hübsche, aber linkische und instabile junge Frau; Bill dagegen war ein brillanter, ambitionierter, sexuell anziehender Hengst. Und als sie ihm nach Arkansas folgte, schien sie ihre Zukunft weg geworfen und auf eine Karriere als berühmte Washingtoner Anwältin verzichtet zu haben. "Meine Freunde und meine Familie dachten, ich hätte den Verstand verloren", zitiert Biograf Bernstein eine Selbstaussage. Ihm zufolge besteht - oder bestand einmal - eine tiefe Verbindung zwischen dem Paar - sexuell, intellektuell und natürlich ihrer gemeinsamen politischen "Reise" verpflichtet.
Aber es war eine Beziehung, die von Bills permanenten Seitensprüngen irreparabel geschädigt wurde. Die junge Hillary scheint das dauerhaft in Wut versetzt zu haben, aber perverser Weise band es das Paar auch immer enger aneinander. In dem instabilen Molekül, das wir gewöhnlich "Billary" nannten, bildete er das Es und sie das Über-Ich. Das genoss sie sichtlich, es vergiftete sie aber zunehmend mit Verbitterung. Bills Liebesspiele stärkten ihre Macht in der Beziehung mit ihm. Außerdem brauchte der aufstrebende politische Star eine gewandte, loyale Gattin, die in der Lage war, die Presse abzuwehren und öffentlich zu ihrem Mann zu stehen. Als das Paar 1993 ins Weiße Haus einzog, den Gennifer Flowers-Skandal* auf den Fersen, schien die äußerlich vergebende Hillary auf der Höhe ihrer Macht angekommen, begierig, die "Co-Präsidentschaft" zu übernehmen.
Hillarys erste Auftritte als First Lady waren denn auch umwerfend arrogant und forsch. Sie verschmähte die Presse, stieß das Personal des Weißen Hauses vor den Kopf und wandte sich plötzlich gegen ihren engen Freund Vince Foster (der daraufhin Selbstmord verübte). Al Gore war entsetzt, als sie versuchte, die Bürosuite im Westflügel zu beanspruchen, die traditionell für den Vizepräsidenten reserviert ist. Hillary verlangte zudem einen Platz im Kabinett, was überstimmt wurde. Dann beharrte sie darauf, Bills Gesundheitsreform zu koordinieren, trotz der Einwände von Gesundheitsministerin Donna Shalala, die nicht weniger feministisch als Hillary war.
Hillarys Anlauf für eine nationale Gesundheitsversicherung - den sie als Präsidentschaftskandidatin in diesem Herbst ein zweites Mal unternehmen muss - war in jeder Hinsicht ein Desaster. Verfahrenstechnisch versagte sie, weil sie unter extremer Geheimhaltung planen ließ und es noch nicht einmal riskieren wollte, mögliche Unterstützer im Kongress einzuweihen. Das alles mündete in eine gequälte, 1.300 Seiten starke Gesetzesvorlage, die beinahe niemand verstehen konnte. Zwar sprach die Rechte von "verstaatlichter Medizin" - doch hätte Hillarys Vorhaben im Endeffekt den tödlichen Griff der größten privaten Versicherungsgesellschaften über die amerikanische Gesundheitsversorgung bewahrt.
Sie war es nicht gewohnt, Fehler zu machen - das war stets der Job von Bill
Nun war Hillary die Bürde des Billary-Teams. Enthüllungen über ihre Beteiligung an obskuren Immobiliengeschäften in Arkansas legten einen Interessenkonflikt nahe: Als First Lady des Bundesstaates war sie zugleich in der Rose-Anwaltskanzlei in Little Rock beschäftigt gewesen. Der wahre Skandal bestand darin, dass sie überhaupt für Rose gearbeitet hatte, die für so arbeitnehmerfeindliche Firmen wie Tyson Poultry und Wal Mart stets einen vorzüglichen Rechtsbeistand garantierte.
Also begann Hillary Mitte der neunziger Jahre, sich im Angesicht einer möglichen Anklage neu zu erfinden: sanfter, anschmiegsamer. Sie schrieb das Buch It Takes a Village über die Bedeutung von Kindern, an dem nur seine Saftigkeit bemerkenswert ist - und die falsche Behauptung, ihre eigene Familie in Kindertagen sei idyllisch gewesen. In Pink erschien sie zu einer Verteidigungspressekonferenz im Pink Library des Weißen Hauses; höfliche Kommentatoren beschrieben ihren dortigen Auftritt als "übernatürlich ruhig". Ihre schlaffen Augenlider und die verlangsamte Stimme erweckten allerdings eher den Eindruck von Über-Medikation.
Mit ihrem schwer erkämpften Gesundheits-Portofolio gescheitert und von der Presse wegen der schmutzigen Geschäfte in Arkansas belagert, begann Hillary wild um sich zu schlagen - und suchte Hilfe bei der New Age-Heilerin Marianne Williamson. Verglichen mit den Skandalen des Weißen Hauses, die in der Bush-Ära folgen sollten, war das Whitewater-Landgeschäft wahrlich mikroskopisch - niemand starb oder wurde gefoltert - und sicher trug die Stimmungsmache der Rechten dazu bei, den Skandal am Leben zu erhalten. Aber was die Affäre über alle Maßen aufbauschte, waren Hillarys Lügen, ihre Vermeidungsstrategien und ihre Hinhaltetaktik. Sie war es nicht gewohnt, Fehler zu machen - das war Bills Job. Und sie einzugestehen, gehörte schlichtweg nicht zu ihrem Repertoire.
Sie geriet zeitweise in die Defensive - erst Monica Lewinsky und Bills vermeintliche Affäre mit der Praktikantin stellten Hillarys Oberhoheit über ihre Ehe wieder her und damit auch ihr Selbstvertrauen. Augenscheinlich glaubte sie den Unschuldsbeteuerungen ihres Gatten und übernahm die Leitung seiner Verteidigung im Weißen Haus. Doch zur allgemeinen Verwirrung ergründete sie die Möglichkeit, im Staat New York für den Senat zu kandidieren und das just in dem Moment, als die schon gewählte Kammer über Bills Amtsenthebung abstimmte. Und selbst in dieser Situation einer wahrlich extremen Krise - für ihre Ehe wie für die Präsidentschaft - konnte sie nicht widerstehen und beteuerte gegenüber einem Familienberater: "Mein Mann mag seine Fehler haben, aber er hat mich nie belogen".
Ein Eingeständnis ihrer Fehler in Sachen Irak verweigert sie hartnäckig
Im Rennen um die demokratische Präsidentschaftskandidatur hat Hillary in diesem Jahr irritierender Weise wiederholt behauptet, sie habe als Senatorin nicht für die Irak-Invasion gestimmt - sondern lediglich Bush die Macht verliehen, einen Krieg zu führen, so er das denn wolle. Was sie nicht erwähnt: Sie votierte gegen einen von Senator Carl Levin vorgeschlagenen Zusatz zum Kriegsbeschluss, der Präsident George Bush gezwungen hätte, den Kongress erneut um Zustimmung für einen Waffengang gegen Saddam Hussein zu ersuchen, sollten die diplomatischen Bemühungen scheitern.
Schlimmer noch, sie weicht der Frage aus, ob sie überhaupt jemals den vollständigen Text des National Intelligence Estimate - des Reports der US-Geheimdienste von 2002 - gelesen hat. Der Bericht wurde als casus belli angeführt, trotz seiner Mehrdeutigkeiten in der Frage, ob der irakische Diktator tatsächlich im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei. "Wenn sie sich nicht die Mühe gemacht hat, den vollständigen Geheimdienstbericht zu lesen", kommentieren Gerth und Van Natta, zwei weitere Biografen Hillarys, "dann hat sie schlicht ihre Hausaufgaben nicht gemacht - und dass bei einer Entscheidung, die sie als die wichtigste ihres Lebens bezeichnet. Sollte sie den Bericht aber gelesen haben, dann hat sie ihre Zustimmung zum Krieg mit Aussagen begründet, die durch die vorliegenden Geheimdienstinformationen nicht bestätigt wurden". Seit Hillary ihre Bewerbung um die US-Präsidentschaft verkündet hat, drängen Kriegsgegner unter den Demokraten, sie möge ihren Fehler in Sachen Irak zugeben - was sie hartnäckig, ja kindisch, verweigert.
Wer also ist Hillary Clinton? Sicher hat sie geliebt, gelacht und gelitten, wie es Menschen eben tun. Aber was uns bleibt und heute entgegen tritt, ist eine geschmeidige, kapitalkräftige, nach Macht strebende Maschine, umhüllt von einem schimmernden Panzer aus Selbstgerechtigkeit. Sie hat bereits beachtliche Macht genossen, als Senatorin wie als "Co-Präsidentin", aber wenn es darauf ankam, hat sie es buchstäblich vermasselt.
Nach 15 Jahren kleiner und großer Verbrechen ihrer Präsidenten scheint es für die Amerikaner geboten, all den Abschaum und all das Blut von ihren Händen zu waschen. Dazu brauchen sie einen Präsidenten, der weder ein Clinton noch ein Bush ist.
Zwischentitel von der Redaktion/Aus dem Englischen von Steffen Vogel
(*) Im Wahlkampf 1992 behauptete Gennifer Flowers, zwölf Jahre lange eine Affäre mit Bill Clinton gehabt zu haben, was der damalige Präsidentschaftskandidat der Demokraten bestritt.
Bei "The Nation", 1865 gegründet, handelt es sich um die älteste Wochenzeitung der Vereinigten Staaten. Das Blatt widmet sich amerikanischer und internationaler Politik wie Kultur. Seit Beginn des Irak-Kriegs, den die Redaktion vehement ablehnte, stieg die Auflage des Blattes auf rund 184.000 verkaufte Exemplare. The Nation gilt als die beste unter den linksliberalen Publikationen Nordamerikas. Zu den prominenten Autoren zählen die Schriftsteller Gore Vidal, Norman Mailer und Toni Morrison, der Filmemacher Michael Moore, der Soziologe Mike Davis, die Publizistin Naomi Klein und der Grünen-Politiker Ralph Nader.
Barbara Ehrenreich, eine der bekanntesten amerikanischen Publizistinnen, veröffentlicht unter anderem im Magazin der New York Times, in der Vogue und im Wallstreet Journal. In Deutschland wurde sie durch Undercoverreportagen aus der Arbeitswelt bekannt: Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft (2001) und qualifiziert arbeitslos. Eine Irrfahrt durch die Bewerbungswüste (2006), die beide im Kunstmann Verlag erschienen sind. Dafür nahm Ehrenreich falsche Identitäten an, jobbte im Niedriglohnsektor und versuchte, als vermeintlich arbeitlose Akademikerin erneut Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen. Der vorliegende Essay wurde leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet. Er erschien erstmalig in The Nation.
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