Bye bye Cowboy, bye bye Mountain Bike

PR-Schnellschuss vor den US-Kongresswahlen George W. Bush liest Albert Camus, William Shakespeare und auch sonst sehr viel

"Ist dieser Präsident ein notorischer Kulturverächter? Oder gar ein unverbesserlicher Simpel?" Dass es sogar Amerikas konservativste Talkmaster drängt, diese nicht unwesentliche Frage kurz vor den Kongress-Wahlen im November anzuschneiden, hat das Weiße Haus so schockiert, dass es sich zu einem riskanten PR-Schnellschuss verführen ließ. Quasi über Nacht wurde dem für seine häufigen rhetorischen Patzer brühmten und gar der Idiotie bezichtigten Republikaner ein verblüffend neues Image übergestülpt. Jüngst erst hatte Bush mit Blick auf die Zukunft der transatlantischen Kooperation erstaunten Zuhörern zu verstehen gegeben, wichtig dabei seien die gemeinsamen Ziele, die man erreichen wolle, zum Beispiel eine "Demokratie in Deutschland". Und am 21. April 2006 deutete er im Silicon Valley an, dass er sich am Liebsten in einen Super-Chip verwandeln wolle. Wörtlich hieß es: "Mein persönlicher Wunsch ist es, eine wettbewerbsfähige Nation zu werden."

Nun aber schlägt nach dem Willen seiner PR-Gang die Stunde des Bücherwurms: George Walker - die eifrige Leseratte. Bye bye Cowboy, bye bye Mountain Bike. Sechs Jahre Ranch und Zäune flicken sowie Holz machen sind passé. Der mit der Bibliothekarin Laura verheiratete Legastheniker George Walker Bush tritt dieser Tage als "man of letters" auf. Als ein durchaus kultivierter Zeitgenosse, der sich nicht mehr nur für Gott, sondern auch für den Rest der Welt und mehr interessiert und nach der Lektüre von Albert Camus mit seinem Pressesprecher über die Ursprünge und literarischen Einflüsse des Existentialismus debattiert.

Camus´ Klassiker Der Fremde stand auf Bushs Sommer-Leseliste, die vom Weißen Haus Mitte September großzügig verteilt wurde und insgesamt 25 Titel aufführte. Ein Robert-Oppenheimer-Lebensabriss gehörte ebenso dazu wie eine enzyklopädische Abhandlung über die Geschichte der Polio, gleich mehrere Abraham-Lincoln-Biogafien, versteht sich, Baseballstories sowie drei Bände Shakespeare, unter anderem Dramen wie Macbeth und King Lear. Insgesamt habe er in diesem Jahr bereits 60 Bücher gelesen, hat George Bush der Presse erzählt, zehn mehr als sein enger Berater Karl Rove, mit dem er um die Wette lese.

Vor fünf Jahren, am 11. September 2001, als in New York die Twin Towers in Schutt und Asche versanken, fand der Präsident in Florida bei ABC-Schützen Zuflucht, denen er die Geschichte von der tapferen kleinen Ziege vorlas: My Pet Goat - der elementare Leselevel tat ihm sichtlich wohl.

Von der Hausziege zu Camus und Oppenheimers Bombe ist der Sprung wahrlich gigantisch. Schier unglaublich für jemanden, dem intellektuelle Neugier immer fremd oder suspekt war, der keine Zeitungen liest und im Fernsehen nach eigenem Bekunden nur Sport sieht, Memos nicht begreift, die länger als eine halbe Seite sind, und nach 20 Uhr 30 bereits entschlummert. Amerikas Blogger haben ausgerechnet, dass der Präsident für seine in diesem Jahr angeblich konsumierten 60 Bücher mehr als 27.000 Seiten gelesen haben müsste. 115 Seiten pro Tag - wenn er gerade einmal nicht die Lippen bewegt. Ist George Bush ein Idiot? Wenn nicht er - auf manchen seiner PR-Berater trifft das wohl zu.


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