Kürzlich veröffentlichte der Berliner Senat eine Studie über das Wohlbefinden Berliner Kinder in der Schule und im familiären Umfeld. Die Erhebung ist Teil der internationalen Vergleichsstudie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC), die die WHO alle vier Jahre in 41 Ländern durchführt. In Deutschland wurden neben Berlin auch Kinder aus Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen zum Interview eingeladen. Die Ergebnisse für den Berliner Raum sind alarmierend.
Ein Viertel der Berliner Schüler zwischen elf und 15 Jahren klagt über psychosomatische Beschwerden, hat oft Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen oder kann nicht einschlafen. Ebenso sind psychische Erkrankungen häufiger geworden. Laut Bericht muss in jeder Klasse mit zwei bis drei psychisch auffälligen Schülern gerechnet werden. Weniger als acht Prozent isst genügend Obst und Gemüse. Nur rund ein Drittel der Schüler betätigt sich täglich mindestens eine Stunde körperlich, so wie es Gesundheitsexperten empfehlen. 16 Prozent der elf- bis 15- Jährigen war schon mehr als einmal betrunken.
Diese Zahlen ließen sich fortsetzen. So ist es kein Wunder, dass gut ein Fünftel der befragten Kinder und Jugendlichen mit dem eigenen gesundheitlichen Befinden nicht zufrieden ist. Daruner sind Gymnasiasten seltener zu finden als Real- und Gesamtschüler. Betroffen sind vor allem ältere Mädchen.
Mädchen: Der "kleine Unterschied"
Mehr als die Hälfte der Mädchen hält sich für zu dick. Dabei liegt die Rate der Übergewichtigen in dieser Altersgruppe relativ konstant bei 17 Prozent. Während sich ihre Werte in Bezug auf Rauchen, Kiffen, Alkoholkonsum und aggressives Verhalten dem negativen Trend der Jungen annähern, wollen sie mit Gewicht und Figur offensichtlich den "kleinen Unterschied" markieren. Zwar wirft der Bericht die berechtigte Frage auf, ob Mädchen tatsächlich stärker belastet sind oder ob sie - wie man es aus der Medizin von ihren Müttern weiß - die Belastungen und Defizite nur sensibler wahrnehmen. Dennoch scheint sich die Geschlechterfrage noch schärfer als in der Generation davor über Körperlichkeit und Supermaße zu entscheiden.
"Die elterlichen Ressourcen sind knapp geworden", kommentiert Olaf Reis vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Rostock die Befunde über das Gesundheits- und Risikoverhalten von Jugendlichen. "Eltern arbeiten zu viel oder zu wenig und haben sich aufgegeben. Ein Risikofaktor ist auch, wenn die Kinder bei Alleinerziehenden aufwachsen und weitere unterstützende Personen fehlen."
Als ein Alarmsignal sieht er die Ergebnisse einer Befragung von 200 Jugendlichen, die in den zurückliegenden zwei Jahren in Rostock mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht wurden, übrigens die Hälfte davon Mädchen. Immerhin 15 Prozent von ihnen mussten aus der elterlichen Wohnung mit Blaulicht abgeholt werden. Komatrinker aber - so der Befund der Berliner WHO-Studie - sind selten arabischer oder türkischer Herkunft, sondern vor allem unter Schülern beiderlei Geschlechts und deutscher Herkunft und aus Familien mit höherem Wohlstand anzutreffen. Für sie gehört dieses Balancieren auf der Grenze zur provokativen Jugendkultur. Deshalb genügt es nicht, auf sozial benachteiligte Familien und solche mit Migrationshintergrund zu verweisen, wenn es um das gesundheitliche Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen geht. Fast 20 Prozent der Berliner Schüler/innen gaben an, manchmal, wenn nicht häufig oder immer ohne Mahlzeit in die Schule oder ins Bett zu gehen zu müssen - und zwar aus allen drei Wohlstandsgruppen.
Wanted: Eine neue Schulkultur
Dennoch unterstreicht das Körpergefühl der Heranwachsenden auch, was bereits über den Zusammenhang von Gesundheit und sozialer Lage bekannt ist. Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialen Status beurteilen nicht nur ihren Gesundheitszustand als schlechter. Sie haben auch weniger Ressourcen, diese Defizite zu bewältigen. Dies wirkt sich nach Angaben des Dresdner HBSC-Forscherteams auf die Gesundheit noch ungünstiger aus als nur Armut.
Das Datenmaterial verweist auf die mangelnde Aufmerksamkeit, die Pubertierenden entgegengebracht wird. Wer bin ich? Worauf kann ich mich verlassen? Diese Fragen treiben die Mädchen und Jungen bei ihrer Identitätssuche an. Von zu Hause fühlen sich die meisten Mädchen und Jungen laut Studie unterstützt. Doch die Antworten, die sie in der Schule auf ihre Lebensnöte erhalten, sind ungenügend. Zwar schätzen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund das Schulklima positiver ein als die übrigen. Doch gerade ältere Schüler und Schülerinnen und Nicht-Gymnasiasten empfinden den Ort, an dem sie sechs, acht oder manchmal zehn Stunden täglich verbringen, als abträglich für ihr Wohlbefinden.
An dieser Stelle offenbart sich der Wert des internationalen Vergleichs. Unabhängig davon, ob in Amerika, Frankreich, Schweden oder Deutschland gefragt wurde - die elf- bis 15-Jährigen sehen ihre Gesundheit weniger durch die soziale Ungleichheit als durch die schulische Umwelt beeinflusst. Je positiver die Jugendlichen die Schulkultur wahrnehmen, desto seltener haben sie psychosomatische Beschwerden, verhalten sich aggressiv oder flüchten in den Alkoholrausch. Die Schulkultur stellt also die entscheidenden Weichen für das Wohlbefinden der Jugendlichen.
Hänseln: Ein kleines Wort genügt
Schon kleine Veränderungen tragen dazu bei, die eingeschliffenen Verhaltensmuster zu durchbrechen. Würden die Schüler im Laufe des Schultages aufgefordert, das sitzende Lernen durch Bewegung an der frischen Luft zu unterbrechen - es gehörte zum Alltag. Würde in jedem Klassenzimmer ein Korb mit frei zugänglichem Obst und Gemüse stehen - mehr Mädchen und Jungen würden sich gesünder ernähren. Das Erleben, nicht das Reden vermittelt den Jugendlichen die so genannten "life skills", die Fähigkeit nämlich, komplexer werdende Anforderungen gesund zu bewältigen.
Doch dafür fehlen an den Schulen die Ressourcen in Form von Personal, Kompetenzen, Zeit und Geld. Das trifft auch beim Umgang mit Mobbing zu. Den Dresdener Befunden der HBSC-Studie ist zu entnehmen, dass nur ein Viertel der Jugendlichen glaubt, die Lehrer würden sich für sie interessieren. Wenn Schüler und Schülerinnen sich gegenseitig hänseln und schikanieren, stehen sie mitunter nicht nur dabei. Oft sind es kleine Bemerkungen - etwa über unbequeme Schüler -, mit denen sie eine Gruppe steuern, sie zur gemeinsamen Leistung motivieren wollen. Ungewollt kann dies aber zum Ausschluss der Betroffenen beitragen.
Für Olaf Reis, unter dessen Leitung in Rostock gegenwärtig erforscht wird, wie sich Hänseln und Mobben auf das Ich-Konzept und Selbstwertgefühl von Vor- und Grundschülern auswirken, besteht ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Zahl von traurig, ängstlich oder unkontrolliert handelnden Kindern und Jugendlichen und dem immer früher und häufiger auftretenden Teasing und Mobbing. Seine Crew untersucht, wie man Kinder frühzeitig stärken kann. "Direktheit ist immer eine gute Strategie, Hänselei zu erkennen und als das, was es ist zu entschlüsseln", meint er. Lehrer und Lehrerinnen sollten lernen, sich in solche Situationen kompetent und wertschätzend einzumischen. Das könnte dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche gesünder aufwachsen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.