Aufwachsen unter Maos Sonne

China Die in Berlin lebende Übersetzerin und Autorin Zhao Jie legt ihre semi-fiktonalen Erinnerungen an eine Kindheit unter Mao vor

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Aufwachsen unter Maos Sonne

Ausschnitt: Cover

Während der Mao-Kult derzeit in China eine Renaissance feiert, arbeiteten diejenigen, die unter seiner Herrschaft groß wurden, in den letzten Jahren ihre Erinnerungen auf – mit dem gehörigen Entsetzen über ihre ideologische Verblendung. Fast jeder der Autor/innen – wie u.a. Anchee Min in Rote Azalee, Jung Chang in Wilde Schwäne oder Chen Kaige in Kinder des Drachen – erinnert sich mit tiefem Scham daran, Lehrer oder gar die eigenen Eltern als Feinde der Revolution bezeichnet zu haben, sie denunziert und sich emotional von ihnen getrennt zu haben. In ihren Erinnerungen hallen die politischen Slogans wieder, mit denen sie von klein an indoktriniert worden waren, Kampagnensprüche und vor allem Zitate aus der roten Mao-Bibel, die sie verpflichtender Weise stets mit sich tragen mussten. Sie erinnern sich an die allgegenwärtige Kritik und Selbstkritik, die so normal war wie der Toilettengang.

China vor 1949

Die chinesische Gesellschaft ist wie die keines anderen Landes im wahrlich nicht ereignislosen 20. Jahrhundert durch Wandlungsprozesse gegangen, die beispiellos sind und Millionen von Menschen das Leben kosteten. Hier hinterließen die Umwälzungen und Kriege, die die Welt im 20. Jahrhundert erschütterten, vielleicht die tiefsten Spuren. Als die Autorin 1957 das Licht der Welt erblickt, hat das bevölkerungsreichste Land der Welt bereits ein halbes Jahrhundert unvergleichlicher Veränderungen hinter sich: Mit der Öffnung zum Westen waren neue Ideen in das Riesenland gekommen, das sich lange gegen den Rest der Welt verschlossen hatte und in einer traditionellen feudalen Gesellschaft verharrte.

Anfang des Jahrhundert hatte ein Militärputsch die zweitausendjährigen Herrschaft der Kaiserdynastien beendet, indem sie den letzten Quin-Kaiser Pu Yi stürzte. Eine neue Generation, die von westlichen Ideen beeinflusst war, von Ibsen, Tolstoi und Marx, von Mode und gesellschaftlichen Konventionen, kam an die Macht. Schon mit der Gründung der Republik China war die Gesellschaft einmal komplett auf den Kopf gesellt worden – ohne die Spreu vom Weizen zu trennen, wie die China-Kennerin Joy Homer feststellte, die 1939 das Land bereiste. Der Umsturz des riesigen Landes erfolgte mit brutaler Gewalt und verschiedenen politischen Allianzen, die das Land unter neuem Vorzeichen wieder vereinen wollten – neben der Nationale Volkspartei (Kuomintang) traten auch bald die von der Komintern unterstützten Kommunisten auf den Plan, die zunächst in verschiedenen Konstellationen mit den Kuomintang arbeiteten. Erst wollten sie diese zu einer leninistischen Partei umgestalten, dann koalierten sie im Kampf gegen die japanischen Invasoren während des zweiten Weltkriegs, um die Heimat zu verteidigen. Jedoch waren die politischen Interessen unterschiedlich und 1949 gingen die Kommunisten als Sieger aus dem bitteren Bürgerkrieg hervor und vertrieben die Kuomintang, die sich als rechtmäßige Erben der Republik sahen, auf das zuvor japanisch besetzte Taiwan. Dort errichteten sie eine ebenfalls sehr semi-demokratische Herrschaft über die ursprünglichen Einwohner, die viele Todesopfer forderte und bis in die 90er die politische Freiheit stark einschränkte.

http://www.popkontext.de/wp-content/uploads/2013/04/revolutionary-chinese-troops.jpg

Soldaten der Chinesischen Volksbefreiungsarmee im Koreakrieg / Foto: Wikipedia

Volksrepublik und Moaismus

Diese Erfahrung hatte die Generation der Großeltern derjenigen geprägt, die wie die Autorin in Maos China geboren wurden. Die Elterngeneration wurde Träger eines neuen sozialen Experiments: Den radikalen, gnadenlosen Aufbau des Sozialismus, eine weitere komplette Umwälzung, die die letzten Wurzeln der alten Kultur und Wirtschaftsweise ausrotten sollte. Dieser schien der Mehrheit sogar verlockend angesichts der wirtschaftlich und politisch katastrophalen Lage im Land. Die Kommunisten wurden auch als die Befreier von den Japanern gesehen. Die chinesische Gesellschaft war zudem nicht nur seit Menschengedenken an Kollektivismus, sondern auch brutale Gewalt und Sadismus gewöhnt, mit der Macht und Autorität durchgesetzt wurden. Das Engagement für die neuen Machthaber war auch relativ alternativlos, wenn man Teil der Gesellschaft sein wollte und ein erfülltes Leben anstrebte. Wer die „richtige“ soziale Herkunft hatte wurde hofiert, solange er der Partei treu war und deren – häufig wechselnder und oft widerspüchlicher – Linie folgte. Zunächst wurden Fabrik- und Großgrundbesitzer enteignet und teilweise hingerichtet, aber auch Händler und Mittelständler wurden entmachtet – die neuen Herrscher sollten die Arbeiter, Bauern und Soldaten der Volksbefreiungsarmee sein.

Die Eltern der Protagonistin des Buchs, die anders als die Autorin Cui heißt, kamen aus der unteren Mittelschicht bzw. waren relativ armen „Mittelbauern“, also noch akzeptabel, um die neue Ideologie mitzutragen, wo nach „roter“ und „schwarzer“ Klassenherkunft aussortiert wurde. Und sie taten es begeistert – sie waren jung, und wollten ihr Land neu aufbauen und gegen den imperialistischen Feind verteidigen. Zudem konnten sie beide ihre Karriere als Schauspieler verfolgen, bei der Agitationsgruppe der Luftwaffe. Kennen lernten sie sich im Koreakrieg bei der Frontunterhaltung – was nichts anderes als Agitation bedeutete. Dieser Linie folgten sie weiter, auch wenn anfänglich die alten Peking-Opern noch nicht verboten waren und erst Ende der 60er durch die acht von Jiang Qing bestimmten „Modellopern“ komplett verdrängt wurden. Als begeisterte Anhänger der neuen Ideologie nahmen sie es auch widerspruchslos hin, dass sie keine Zeit hatten, sich um ihr Baby zu kümmern, das 1957 als Erstgeborene zur Welt kam, da sie konstant auf Tournee durchs ganze Land geschickt wurden. So kam die Kleine zu ihren Großeltern nach Peking, wo sie in einer alten Gasse nahe dem Platz des himmlischen Friedens in einem traditionellen Wohnhof aufwuchs.

Die Großeltern waren unpolitisch – der schwache Großvater hatte nie etwas eigenes aufgebaut, sich zunächst auf gute Beziehungen zu den Kuomintang verlassen und später versorgten seine Kindern die Familie, die im neuen System Karriere machten. Die Großmutter war vollauf damit beschäftigt, sich um ihren Haushalt und die Versorgung von Kind und Ehemann zu kümmern. Kam etwas Unerwartetes von Außen in das Familienleben, versuchte sie es so weit es geht zu ignorieren und das Überleben der Familie abzusichern. Sie „fügte sich ihrem Schicksal“, wie immer es auch aussehen mochte.

Lobliedern auf den Kommunismus

Im Kindergarten lernte die Kleine das Singen von Lobliedern auf den Kommunismus und den großen Vorsitzenden Mao. Dieser begann derweil ernsthaft mit dem Machtkampf um die Vorherrschaft in der alles bestimmenden kommunistischer Partei. Hier gab es die pragmatische Linie von Liu Shaoqi, einem alten Mitstreiter Maos und sein zweiter Mann, der ihn 1961 sogar als offiziellen Nachfolger als Vorsitzender der Volksrepublik China einsetzt, und die von Mao, die den Klassenkampf in den Mittelpunkt stellte, der nie aufhöre, bis der Kommunismus fertig aufgebaut sei. Mao hatte seine eigenen Position zuvor mit dem Großen Sprung nach Vorn geschwächt, der die drei großen Unterschiede Land und Stadt, Kopf und Hand sowie Industrie und Landwirtschaft einebnen sollte – mit katastrophalen ökonomischen Folgen und 20 Millionen Hungertoten vor allem auf dem Land. Die kleine Cui nahm es als normal hin, dass auch in Peking das Essen rationiert wurde. Die Großmutter macht das Beste daraus. Die Ereignisse innerhalb der Familie waren für die Kleine bestimmend: Der geliebte Großvater starb, als sie drei war, die Eltern waren hin und wieder in Peking und sie durfte bald die revolutionären Theaterstücke besuchen, diese aufführten. Sie kam endlich in die Schule; sie sehnte sich nach Wissen und Lernen, nachdem sie schon bei einer größeren Freundin im Wohnhof Lesen und Schreiben gelernt hatte.

Die Kulturrevolution und die Roten Garden

Nachdem sich die Chinesische Wirtschaft in den 60ern unter der Führung Lius von den Folgen des Großen Sprungs zu erholen begann, kam die nächste Kampagne und damit die nächste Katastrophe. Mao, der sich eigentlich in die zweite Reihe zurückgezogen hatte, trat wieder nach vorn. Wohlweislich ließ man hier die Wirtschaft formal außen vor, und zielte auf die Köpfe und Herzen der Menschen. Anders als Staatspräsident Liu Shaoqi, der das Ziel der Kampagne in einer Beseitigung von Missständen in Staat und Gesellschaft sah, die Herausbildung einer neuen Machtelite, die einfach die alter ersetzt und die alte Korruption und Vetternwirtschaft fortsetzt, verhindern soll, wollte Mao seinen permanenten Klassenkampf fortsetzen, die Massen mobilisieren. Auch Maos Frau Jiang Qing, die sich an seiner Seite inzwischen eine wichtige Position an der Staatsspitze erarbeitet hat, und als ehemalige Schauspielerin vor allem für Kultur zuständig ist, treibt die so genannte Kulturrevolution in eine Richtung voran, die zu bisher ungekanntem Terror führen sollte.

Dieser durchdrang das ganze Land und alle Lebensbereiche und machte auch vor der Schule und dem Wohnhof der kleinen Cui, die inzwischen in die dritte Klasse ging, nicht halt. Zunächst musste sie, wie all ihre Schulkameraden, ihre geliebte Rektorin als Volksfeindin denunzieren. Um sie öffentlich zu demütigen, sollten alle Kinder ein Kritik an ihr schreiben. Cui wußte überhaupt noch nicht, wie so eine Kritik aussehen muss, und schätzte die Rektorin zudem. Sie wußte gar nicht, warum diese plötzlich böse sein sollte. So übernahm es der Vater, der inzwischen als Dramaturg arbeitete, die Rede zu schreiben. Er kannte die Rektorin gar nicht, war aber geübt im agitatorischen Zusammensetzen der revolutionären Phrasen. Die Rede ist“schön” – Cui wird, nachdem sie diese, ohne auch nur das geringste zu verstehen, auf dem Schulplatz vorgetragen hatte, zum Star der Schule. Das ebnete den Weg der talentierten Schülerin zur erfolgreichen und vorbildlichen Rotgardistin.

Auch vor dem Wohnhof machte der Terror nicht halt. Hier wohnten Familien verschiedener sozialer Herkunft, zum Teil nach der Gründung der Volksrepublik enteignete Apotheker und Ärzte, die als Angestellte arbeiteten und ein gewisses Ansehen genossen. Sie wurden zu den Opfern der Roten Garde, jungen fanatisierter Mittelschülern, die mit Zustimmung Maos und seiner Mitstreiter und Gefolgsleute das ganze Land mit brutaler Gewalt überzogen, um angeblich den bürgerlichen Ungeist endgültig auszutreiben. Schon vorsorglich hatten die Hofbewohner alle Gegenstände selbst entsorgt oder versteckt, die sie bei Hausdurchsuchungen diskriminieren könnten: Nicht nur Wertvolles, sondern auch Artefakte der alten Kultur, Kleidungsstücke und Bücher. So verbrannt die Großmutter unter Tränen ihre schönstes traditionelles Kleid, was sie von ihrem geliebten Sohn geschenkt bekommen hatte, und schnitt sich ihren Haarknoten ab, der ebenfalls als bürgerlich-dekadent galt. Nachbarn und Mitschüler wurden als „reaktionäre Elemente“ und Spione denunziert, ohne dass es irgendwelche Belege gab, geschweige denn ein Verfahren. Sie verschwanden einfach, ebenso die Arztfamilie, in deren Haus sich die jugendlichen Rotgardisten einrichten. Deren Treiben schaute die kleine Cui mit Entsetzen und Distanz, aber auch einer gewissen Faszination zu – sie waren gar nicht so viel älter als sie und führten ein aus ihrer Perspektive freies und selbstbestimmtes Leben. Sie erwischte sich irgendwann dabei, wie sie ihre Lieder mitsummt. Dann zeigte ihr eine nette ihr eine Rotgardistin ihr Akkordeon. Als ein denunziertes Ehepaar in der Nachbarschaft Selbstmord beging und noch vor dem Tod auf einer „Wandzeitung“ um Rehabilitation bettelte, da man nichts getan hätte und ja den großen Führer Mao unendlich verehre, zog die Großmutter für ein paar Tage einfach die Gardinen zu, weil die bösen Geister der Toten Unglück bringen.

Die vorbildliche Schülerin

Cui entwickelte sich zu einer vorbildlichen Schülerin, das hieß, sie war auch und vor allem politisch zuverlässig. Als sie dem großen Mao zujubeln durfte, geriet sie wie die anderen Hunderttausende auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Ekstase. Schon lange hatte sein Bild das das Herdgottes an den Kochstätten der Omas eingenommen, dann wurden Poster mit seinem Konterfei in die gute Stube gehängt. Jeder, auch die Großmütter, trugen wie selbstverständlich seine Mao-Brosche, am besten gleich mehrere. Diese wurden in ihren verschiedenen Gestaltungen zu begehrten Sammelobjekten, die auch Cuis Mutter begeistert tauschte. Als Soldatin mit guten Beziehungen zu Piloten und hohen Kadern, mit denen sie manchmal dienstlich tanzte, hat sie immer besonders schöne und seltene. Das getreue Befolgen der aktuellen Parteilinie und Kritik und Selbstkritik hatte Cui lange als selbstverständlich verinnerlicht – sie gehörten nicht nur in der Schule, sondern auch in der Nachbarschaft zum Alltag. Hin und wieder hat dies auch komische Züge, so als Nachbarn einen Riesenfisch unbekannter Herkunft anschleppten, der gemeinschaftlich verspeist wurde und eine willkommene Abwechslung auf dem kargen Speiseplan darstellte. Dafür musste sich der Fänger vom Nachbarschaftskommitee verantworten. Nach einigen Jahren hatte man auch gelernt, die richtigen Antworten zu geben und kommt so mit einer Verwarnung davon. Zu Beginn und in der grausamsten Zeit der Kulturrevolution sah das anders aus: Ein bewunderter älterer Mitschüler und dessen Mütter wurden von den Roten Garden zusammengeschlagen, weil er einen kritischen Zeitungsartikel verbreitet hatte. Dessen Verfasser wurde später in einem Sportstadion öffentlich gedemütigt und zum Tode verurteilt, während der Mitschüler in die Verbannung geschickt wurde und sie nie wieder von ihm hörte. Den verbotenen Artikel hob sie heimlich auf – zunächst aus Respekt vor dem Mitschüler. Dann, weil sie fand, er sei gut argumentiert. Warum musste der junge Autor dafür sterben? Was hatte ihr Mitschüler falsch gemacht?

Das alles irritierte die aufwachsende Cui, sie wusste nicht, wie sie das einzuordnen hat – sie folgte weiter der Parteilinie, weil ihr keine Alternativen aufgezeigt werden, keiner etwas erklären konnte, sie sich selber am wenigsten. Aber die Risse in ihrem Ideologiegebäude begannen fast unbemerkt zu wachsen. Als Teenager lebte sie mit ihrer jetzt sehr kranken Großmutter im Wohnheim des Ensembles der Eltern. Hier entdeckte eine Kollegin eine alte, verschlossene Bibliothek, in der chinesische Übersetzungen westlicher Klassiker verstauben. Sie galten als “dekadent” und waren seit beginn der Kulturrevolution verboten. Jetzt kursierten sie unter der Hand im Haus und die Leseratte Cui, die sich nach nichts mehr sehnte als Wissen, verschlang vor allem englische und US-amerikanische Klassiker aus dem 19. Jahrhundert. Zu ihrem eigenen Verwundern konnte sie sich mit den individualistischen Figuren und ihrer Suche nach persönlicher Liebe, einem als kleinbürgerlich und dekadent gebrandmarkten Gefühl, sehr gut identifizieren. Währenddessen war ihr Vater, der hundertprozentig überzeugte Soldat des Volkes, gerade wegen eines angeblichen, nie bewiesenen, Fehltritts, der als “Sittenfehler” bezeichnet wurde, verhaftet worden. Zunächst wurde er eingesperrt und gefoltert, dann kehrte er kurz in die Familie zurück. Die Tochter kehrte sich von ihm ab, weil er nicht der Parteilinie gehorcht hatte, seine Frau hielt zu ihm, wofür auch sie Nachteile erfuhr. Die Kinder wurden von den Nachbarskindern grausam gehänselt. Trotz allem wehrte sich der Vater nicht, sondern fügte sich und nahm alle Strafen widerspruchslos entgegen, in der Hoffnung, bald wieder ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft und seiner geliebten Volksbefreiungsarmee zu werden. Schließlich wurde er sieben Jahre in Verbannung geschickt, nachdem ihm Berufsverbot erteilt worden war.

Die Kinder aus Peking gehen aufs Land

Während der Kulturrevolution war jeglicher reguläre Studienbetrieb zusammengebrochen. Potentielle “Studenten” durften nur durch Arbeiter- oder Bauernbrigaden vorgeschlagen werden. So hatten die Gymnasiasten, deren Schulbildung auch unter der Kulturrevolution arg gelitten hatte, nur zwei Optionen: In einer Fabrik arbeiten oder aufs Land gehen. Letzteres wurde seit den späten 60er Jahren besonders gefördert und brachte die entsprechende Anerkennung. Offiziell hieß es, die Schüler sollen von den Bauern ideologisch lernen, sich dort “umerziehen” lassen. Zudem sollten so die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit nivelliert werden. Fakt war, dass man auch gar nicht wusste, was man mit den ganzen Schulabgängern machen sollte, weil sowohl die Entwicklung in der Landwirtschaft als auch der Industrie stockten. So wurde durch das “freiwillige” Aufs-Land-Gehen schlichtweg Arbeitslosigkeit vermieden.

Cui als Musterschülerin interessierte sich für diese Option, auch wenn sie als Erstgeborene mit kleineren Geschwistern durch eine neue Ausnahmeregelung vom Zwang befreit war, weggehen zu müssen. Wie jede Jugendliche war sie von Abenteuerlust gepackt und wollte auch aus den schwierigen Familienverhältnissen fliehen. Aber sie war wirklich überzeugt, dass sie den armen Bauern in der Provinz helfen könne und so ihren Dienst als kleines Rädchen in der Revolution und ihre Aufgabe auf dem Weg zum Kommunismus erfüllen könne. Sie schlug Warnungen von Bekannten in den Wind, dass sie so wahrscheinlich nie nach Peking zurückkehren könne, weil sie ihre Wohngenehmigung verliere. Nachdem sie ihren Entschluss öffentlich mit blumigen Worten verkündet hatte, in ein Dorf nahe der nordwestliche Provinzhauptstadt Yan’an zu gehen, wurde sie im Schulbezirk zum Star – viele Jüngere wollen ihrem Vorbild folgen und sie hielt öffentliche Reden.

Ernüchterung bei den Bauern

Auch in der Provinz behielt die inzwischen 18jährige zunächst ihre hundertprozentige ideologische Überzeugung, obwohl die Härte des dortigen Lebens ihre bisherigen Vorstellungen überstieg – nicht nur war die körperliche Arbeit auch mit starkem Willen fast nicht zu bewältigen, sondern Hunger gehörte zum Alltag. Die Bauern waren zwar nett zu ihnen und halfen, aber die ihnen in der Ideologie zugedachte Rolle interessierte sie nicht die Bohne. Zwar gab es selbst in dem abgelegenen Dorf einen Parteisekretär und einen “Jugendverband”, aber die Bauern nickten einfach freundlich zu allem und schliefen regelmäßig in der Versammlung ein, wenn die neuesten Leitartikel aus der Zeitung verlesen werden. Die großen Ideale waren ihnen gänzlich fremd – sie kämpfen ums Überleben, sie interessierte die Ernte, das Wetter, das Brautgeld und die Geburten. Die kulturelle Beschäftigungen war Schuhsohlen besticken, Pfeife rauchen und Läuse knacken. Zu Festtagen gab es einen traditionellen Tanz – sie und lebten nicht anders als vor hundert oder tausend Jahren. Immer mehr wurde den überzeugten Jugendlichen aus Peking klar, dass sie den Bauern weder helfen können noch dass sie von diesen die “richtige” ideologische Überzeugung lernen werden.

http://www.popkontext.de/wp-content/uploads/2013/04/Yanan_Shaanxi_maoist_city.jpg

Eine ehemalige Versammlungsstätte der Moaisten in Yan’an ist heute Touristenziel / Foto: Wikipedia

Zudem passierte Cui etwas, worauf sie nicht wirklich vorbereitet war und was auch nicht sein durfte. Eigentlich ist es das Natürlichste auf der Welt: Sie verliebt sich zum ersten Mal richtig. Zuvor hatte sie dieses “kleinbürgerliche” Gefühl immer abgewehrt. Aufgeklärt war sie sowieso nicht. Eine richtige Rotgardistin hatte sich nicht um individuelle Empfindungen zu kümmern, sondern sollte sich mit ganzer Energie für den Aufbau des Kommunismus einsetzen, so die Vorgabe. Eine offene Liebesbeziehung zwischen Kamerad und Kameradin – Homosexualität war offiziell sowieso kein Thema – konnte schwerwiegende Folgen haben. Das Paar konnte im schlimmsten Fall zur gegenseitigen Denunziation mit Todesfolgen genötigt werden – im besten wurde es im Status einfacher Bauern eingestuft und bekam nie wieder die Chance, aus der Provinz wegzukommen. Letzteres gelang doch den meisten, die sich einst oft hochenthusiastische zum Leben auf dem Land entschlossen hatten und nach einer Ernüchterungsphase alle Hebel in Bewegung setzten, wieder in die Stadt zu kommen. Einige der Abiturienten waren auch in regelrechte Zwangslager geschickt worden, wie es z.B. Anchee Min beschreibt.

Cui aber war freiwillig unter wohlwollenden, aber bitterarmen und sehr einfachen Bauern und hatte auch nach einem guten Jahr entbehrungsreichen Lebens immer noch das Gefühl, sie würde ihre Überzeugung verraten, wenn sie die Bauern wieder verließ. Wäre nicht der politische Hintergrund, der keine wirkliche Freiwilligkeit zuließ, könnte man glauben, sie wären in einem Kibbuz oder gar Hippies, die diese naturnahen Erfahrungen auf sich nehmen, weil sie aus der Gesellschaft aussteigen wollen, um zu sich zu finden. Auch Cui und ihre Freund/innen fanden hier zu sich selbst – allerdings anders, als von der Parteiführung intendiert.

Maos Tod und das Ende der Kulturrevolution

Auch die politische Entwicklung half bei der Entscheidungsfindung, ob sie nun Hilfsbäuerin in der Einöde im Dienste des Kommunismus bleiben oder das aus ihrem Leben machen soll, was sie sich eigentlich wünschte: 1976 starben kurz hintereinander mehrere Machthaber der KPCh, alles alte Kampfgenossen der ersten Stunde – zunächst der damals wie noch heute relativ geachtete Premierminister Zhou Enlai, in dessen Andenken es zu Zwischenfällen auf dem Platz des Himmlischen Friedens kam, dann, weniger beachtet, Armeechef Zhū Dé, und zuletzt der gottgleiche Mao, nach dessen Tod das ganze Land in Tränen ausbrach. Viele der echten Trauer, aber einige sicher auch der Freude Denn damit ging eine Ära zuende. Die Kulturrevolution war vorbei und wenige Monate später wurde die so genannte „Viererbande“ angeklagt, der alle Schuld an den Übergriffen zugeschrieben wurde. Opfer der Kulturrevolution wurden rehabilitiert – postum oder nach Jahren der Verbannung, Gefängnis und Folter. Die Mao-Bilder dagegen verschwanden zwar aus den meisten Wohnzimmern, aber nicht aus dem öffentlichen Leben, so sie bis heute zu sehen sind und seine Statuen und die Orte seines Wirkens sind weiterhin Wallfahrtsorte. Er blieb unantastbar: Der neue starke Mann, der endgültig rehabilitierte Deng Xiaoping, einstiger Mitstreiter des postum rehabilitierten, aber kurz nach seiner Entmachtung im Gefängnis verstorbenen Liu Shaoqi, gestand lediglich zu, nach 1957 habe Mao vermehrt schwere Fehler gemacht.

Wichtig für Cui war damals, dass wieder ein reguläres Studienwesen eingerichtet wurde. So konnten sie ihre Freunde überzeugen, dass es kein Verrat an der Revolution sei, an der Hochschulaufnahmeprüfung teilzunehmen,. Diese fand im Dezember 1977 auch in Yan’an statt und offen für alle ehemaligen Gymnasiasten bis 26 – so hatten auch die Land-“Freiwilligen“ eine Chance, die noch in der Lage waren, sich wieder auf Schule einzulassen. Nachdem sie das Denken schon fast verlernt hatten, bestanden viele von ihnen nach kurzer Vorbereitung die Aufnahmeprüfung. Cui hatte in der Schule für ein paar Jahre Deutsch gelernt, bei einem beeindruckenden Lehrer, der vom zunächst unter die Räder der Kulturrevolution geraten war, dann aber von Zhou Enlai mit anderen Intellektuellen wieder aus der Verbannung zurückgeholt wurde, als dieser die fatalen Auswirkungen des Lehrermangels und der kompletten Verkümmerung des intellektuellen Lebens erkannte. Damals war Deutsch für Cui ein erster Einblick in eine fremde Welt gewesen, jetzt sollte es ihre Karriere werden. Sie hatte es als Wunschfach angegeben, das man wählen konnte – im Gegensatz zur Uni. So hatte sie Glück, dass sie sogar wieder nach Peking gehen konnte, was nur den besten Prüflingen gelang. 1984 bekam sie ein Stipendium an der Freien Universität in Westberlin, wie die Autorin, die hier ihre semi-fiktionale Geschichte erzählt. Seitdem ist Deutschland ihre Wahlheimat geworden.

Eine spannend zu lesende Geschichte

Zhao Jie verwebt die persönliche und die politische Geschichte so spannend und klar lesbar, dass man die 700 Seiten schneller wegliest als man befürchtet. Sie strukturiert klar, das Figurenensemble ist trotz der fremd klingendne Namen überschaubar, sie schreibt direkt und unpathetisch. Das heutige Ich in der Erzählstimme tritt nur manchmal offensichtlich hervor – wenn die Divergenz zu groß wird. Dabei kommt kein Hass durch, sondern Fassungslosigkeit über den Grad der eigenen Verblendung. So an der Stelle, als sie darüber schreibt, wie sie ihre Rektorin denunziert. Sie frage sich heute noch, was aus ihr geworden sei und widmet ihr ein Gedicht, in dem sie sich mit der Schuld befasst, die sie damals als Kind auf sich geladen hat, als „unschuldige Schuldige“. Zhao klärt an einigen Stellen den wahren Hintergrund von Propagandalügen auf, an die sie als Kind glaubte, oder erzählt die meist tragischen Geschichten damaliger Helden aus dem heutigen Wissen zuende. Die Rahmenhandlung bildet der Tod der geliebten Großmutter – der mit dem Tian’anmen-Massaker am 3. und 4. Juni 1989 zusammenfällt. Als Cui deshalb von Deutschland nach Hause fährt, erlebt sie, wie der Vater, der seit vierzig Jahren stolzer Verfechter jeder Linie der KPCh war und nichts auf die Volksbefreiungsarmee kommen ließ, den Glauben verliert. Er konnte nicht fassen, dass seine Armee auf das eigene Volk schießt.

Gerade durch die nüchterne, ungekünstelte, wenig wertende Erzählweise ist das Buch sehr eindrucksvoll, weil man sich auf die Welt der Protagonistin einlassen kann, ohne zu sehr geführt zu werden. Man versteht mit ein wenig Empathie, wie sie zu so einer glühenden Vertreterin des Maoismus wurde – weil dieses Umfeld, diese Ideologie die Normalität darstellte. Das Schreckliche, Irritierende wird verdrängt, weil es nicht ins Bild passt und weil man auch nicht wirklich etwas dagegen machen kann. Auch in der Erwachsenenwelt gibt es wenige, die sich wehren – selbst die haben keine Chance. Trotz konstanter Politisierung wird jede politische Diskussion, die mit eigenständigem Denken zu tun hat, unterdrückt, jedes Andersdenken, Dinge in Frage stellen, die hohlen Parolen nicht echoartg wiedergeben, wird sofort bestraft. Das hatte Cui anschaulich von klein auf gelernt und war höchst irritiert, als sie dieses „Andere“ auch in sich entdeckt – in dem Moment, wo sie sich selbst fand. So ist das Buch auch eine Coming-Of-Age-Geschichte, wobei die Protagonistin das Glück hatte, dass in dem Moment, wo sie selber langsam erwachte, auch das System, das sie geformt hat, begonnen hatte, mehr Freiraum zu bieten.

Zhao Lie – Kleiner Phönix, Blessing Verlag / Random House, 720 Seiten, mit persönlichen Fotos der Autorin, VÖ: 15.4.2013

Lesungen:
11. April, 19.00 Uhr Ingeborg-Drewitz-Bibliothek Berlin // Moderation: Knut Elstermann
24. April, 19.00 Uhr Hamburger Kammerspiele // Moderation: Claus Friede
23. Mai, 19.30 Uhr Bücher am Nonnendamm, Nonnendammallee 87a, 13629 Berlin

Zuerst veröffentlicht auf Popkontext.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Popkontext

Journalistin, Bloggerin, DJ, Fotografin - Kultur, Medien, Politik, Sprache // Websites: popkontext.de / wortbetrieb.de

Popkontext

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden