Billy Bragg: Mermaid Avenue – The Complete Sessions und Tour

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1997 nahm Billy Bragg gemeinsam mit Wilco in mehreren Sessions unvertonte Songtexte des US-amerikanischen Singer Songwrtiers Woody Guthrie aus den 40er Jahren auf, die sie mit neuer Musik versehen haben. Zum hundertsten Geburtstag von Guthrie erscheinen sie komplett. Heute beginnt Braggs Deutschlandtour, aut der er das Album vorstellt.

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Foto: Epitaph / Anthony St. James

Es habe vier Jahr gebraucht, bis Nora Guthrie, die Tochter des legendären US-amerikanischen Singer-Songwriters Woody Guthrie ihn überzeugt habe, sich einiger der verwaisten Texte ihres Vaters anzunehmen, die er geschrieben, aber nie aufgenommen hatte und deren Melodien nach seinem Tod 1967 verloren gegangen waren, erzählt Billy Bragg. Warum soll ausgerechnet er, als Engländer, der aus dem 77er Punk stammt, der Mann sein, der dieses Erbe auf sich nehmen soll. Seine Erste Reaktion war: „Dass ist Dylans Job, das ist Arlos Job, oder Pete Seegers Job“ – Schüler, Sohn und Wegbegleiter des großen Musikers. Erst als Nora Guthrie ihm versicherte, es gäbe 3000 solcher Texte in irgendwelchen Kartons, und er würde niemandem etwas wegnehmen, wenn ihm ein Album nicht gelingt, war er überzeugt. „Unter diesem Aspekt war es mich eine interessante Gelegenheit, mit jemandem zu arbeiten, der der Vater der Tradition des politischen Songschreibens ist,“ sagt Bragg.

Billy Bragg war in den 80ern als politischer Singer-Songwrtier bekannt geworden und ist heute neben der Musik vor allem als politischer Kommentator aktiv – geht es um politische und soziale Ungerechtigkeiten, ruft die BBC bei Bragg an oder der Guardian bittet um einen Artikel – sei es der Murdoch-Skandal, Occupy oder der Streik der Angestellten im öffentlichen Dienst. Aber eigentlich sei er schon immer ein politische Kommentator gewesen, seit den Arbeiterjungen, der durch The Clash zum Punk wurde, das Klima im Großbritannien unter Thatcher, geprägt durch Sozialabbau und Endsolidarisierung, politisiert und zum Sozialisten gemacht hatte. „Vorher hatte ich das, was man vielleicht grob humanistische Ansichten nennen könnte,“ sagt Bragg. Die einzige politische Aktion, an der er in den 70ern teilgenommen habe, sei Rock gegen Rassismus gewesen. Dann wurden „Dinge, die wir als selbstverständlich empfanden, bedroht“ und ihm war klar, dass er aktiv werden müsse. In It Says Here kritisierte er die Medien, Between The Wars schrieb er über den Bergarbeiterstreik 1984, er motzte den Klassiker des US-amerikanischen Anarchisten Joe Hill, There is Power in a Union, textlich und musikalisch auf, um für die Gewerkschaften einzutreten. Und er kam damit in die Charts und wurde zu einer britischen Institution.

Bei der Arbeit mit Woody Guthries Songs sollte es allerdings gar nicht so sehr um die politische Seite gehen, für die Guthrie bekannt ist: Sein Einsatz für die „einfachen Menschen“, als deren Stimme er sich sah, die Flüchtlinge aus dem ländlichen amerikanischen Mittel- und Südwesten, die vor Staubstürmen und raffgierigen Banken Mitten in der Großen Depression nach Kalifornien flohen, dort aber auch keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit fanden und wie Aussatz behandelt wurden. Diese Ungerechtigkeiten beschrieb Guthrie in seinen Songs, und rief immer wieder zur Organisation in Gewerkschaften auf. Aber Guthrie war weitaus vielseitiger als das, und Bragg, Nora Guthrie und die US-amerikanische Band Wilco machten es sich nicht nur zur Aufgabe, Guthrie einem jüngeren Publikum wieder vertraut zu machen, sondern auch sein Bild „dreidimensionaler“ zu gestalten, wie Bragg meint. Viel sähen in ihm nur eine Figur aus einem schwarz-weiß Film aus den 30er Jahren, wie in John Fords Verfilmung von John Steinbecks Früchte des Zorns, der sich um die gleiche Thematik der „Dust Bowl“ rankt. Bragg verweist auf einen anderen Film: On The Town, mit Frank Sinatra und Gene Kelly, ein Musical über drei Matrosen auf Landurlaub in New York 1948. „Der ist in Technicolor, und es ist die moderne Welt, wie wir sie kennen, nicht die Dust Bowl, die aussieht wie im 19. Jahrhundert.“ Das Ende des Films spielt in Coney Island – dort wohnte Guthrie zu der Zeit, als er die Texte schrieb, die Bragg und Wilco für Mermaid Avenue (Guthries damalige Adresse) vertonten.

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Cover

So fühlten sie sich auch frei von dem Zwang, mit ihrer neu zu schaffenden Musik Guthrie-Puristen zu genügen. Sie sahen sich nicht in einer altertümlichen Folktradition, der Guthrie gerne zugeordnet wird, sondern in der von Bob Dylan und The Band, die für ihre Basement Tapes 1967 auch alte Folksongs aufgenommen hatten – mit dem musikalischen Wissen und der Instrumentierung der späten 60er. Und Bragg ist davon überzeugt, dass Guthrie, hätte er nicht seit Ende der 40er nennenswert unter der Erbkrankheit Chorea Huntington gelitten, die 1954 endgültig zu einer Zwangseinweisung führte, hätte er noch „vor Dylan elektrisch gespielt, noch vor dem Folkboom. Sein Sohn Joadie erzählte mir einmal, dass eine von den Sachen, die er haben wollte, eine elektrische Gitarre war.“ Bestärkt fühlte sich Bragg noch durch eine kleine Notiz, die er bei Guthries Aufzeichnungen zu seinem Song My Flying Saucer fand. Guthrie konnte keine Noten schreiben, gab aber das Tempo mit “Supersonic Boogie” an, wahrscheinlich inspiriert durch die Ende der 40er angesagte „Boogie Woogie und Jump Music, also die erste rock’n'rollartige Gitarrenmusik.“

Als das erste Mermaid Avenue-Album 1998 erschien, wurde es entgegen Braggs Sorgen zu einem vollen Erfolg: Die Songs machten eine neue Generation mit Guthrie als „modernen“ Singer-Songwriter vertraut, mit Way Down Yonder in the Minor Key und California Stars waren sogar zwei kleine Hits darauf, die in den Kanon eingingen. Ein Jahr später erschien der Dokumentarfilm Man in the Sand über die Sessions von Bragg mit Wilco, 2000 Mermaid Avenue II. Ermutigt durch die positive Resonanz beauftragte Nora Guthrie nun auch andere andere Musiker/innen zumeist aus der US-amerikanischen Indie-Szene damit, sich in den Archiven mit den Guthrie-Texten zun beschäftigen und neue Musik dazu zu schaffen, wie z.B. die Klezmatics, Jonatha Brooke, Akron/Family und zuletzt Jay Farrar (Uncle Tupelo / Son Volt). Als sich die Plattenfirma entschied, zum 100. Geburtstag Woody Guthries, den er in diesem Jahr gefeiert hätte, die kompletten Sessions samt DVD als Box-Set zu veröffentlichen, entschied sich Bragg, die Aufnahmen für eine eigene neue Platte zurückzustellen. Er nahm Einladungen aus aller Welt an, zu Guthrie-Jubiläumsfeiern aufzutreten und stellt die Guthrie-Sessions auch in den Mittelpunkt seiner Deutschlandtour, die am Donnerstag beginnt. „Aber Lieder wie All You Fascists Bound to Lose kann man immer spielen,“ meint Bragg, jenseits von Jubiläen – “oder „Way Down Yonder in the Minor Key, die Leute lieben diesen Song.“ In einer Zeit von Occupy und der Krise der Eurzone findet es Bragg aber besonders wichtig, noch einmal an die „großartigen Lieder zu erinnern, die Woody Guthrie in den 30ern und 40ern geschrieben hat,“ ob sie nun politisch sind, Liebeslieder oder von fliegenden Untertassen handeln.

Mermaid Avenue – The Complete Sessions VÖ 30.4.2012 Nonesuch / Warner

Tourdaten Billy Bragg
17/05 – Heimathafen – Berlin
18/05 – Fabrik – Hamburg
19/05 – Faust – Hannover
20/05 – Ringkirche – Wiesbaden
22/05 – Zeche – Bochum
27/05 – Manufaktur – Schorndorf
28/05 – Backstage – München

Update: Fotos vom Konzert im Heimathafen Neukölln hier, und hier noch ein paar Portraits von Bragg nach der Show. Podcast einer Radiosendung auf Reboot.fm mit Billy Bragg-Special (Interview in English) hier.

Literatur zu Woody Guthrie (VÖ 15. Juni)

Zuerst erschienen auf Popkontext.de

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