Dinge sind an sich schön. "An sich" ist eine heimatliche Floskel. Eine Redensart, deren Klang man sich rheinisch gefärbt vorzustellen hat. "Och, an sisch janz nett", gaben die Freundinnen meiner Mutter als Beurteilung über Dinge, Ereignisse, Menschen zu Protokoll. Dinge ohne die lästige Bindung an Menschen. An sich sehr schön.
Vor mir liegt ein Buch. Es ist ein Bilderbuch. Auf den ersten Blick scheint der Chef de Cuisine einen Joint zu viel geraucht zu haben. Er sitzt in seiner Küche, ihm ist schlecht, und über die hellgrau gekachelten Wände tanzen Schneebesen, Zitronenpresse und zahnbewehrte Dosenöffner. Der Wäscheständer für die frisch gestärkten Kochmützen klemmt ihm den Finger ein. Der Rührmix wirft psychedelische Schatten auf die polierten Arbeitsflächen aus Stahl, und er wundert sich sehr, dass der Berg leuchtend gelber Zitronen nur in Umrissen zu erkennen ist.
Beim zweiten Durchblättern stellt sich die Gewissheit ein: Hier schuf eine Designerin das erste Gebetbuch für Animatisten. In meinem Schülerduden über Die Religionen heißt es: "Animatismus (von lateinisch animatus belebt, beseelt): Der Glaube an eine Belebtheit aller Dinge". Die eifrigsten Anhänger sind unter den etwas angealterten jungen urbanen Profis zu suchen, die Tag für Tag und des Nachts im Vierundzwanzig-Stunden-Fitnessstudio an ihren Konturen feilen. Denn ihr oberstes Gebot heißt: Zeige Profil, feile dich kantig, profiliere dich.
Frau Wember wurde vom Art Directors Club in New York für dieses Werk mit der Silbermedaille ausgezeichnet, einem ganz exklusiven Orden übrigens, dessen Mitgliedern der Wäscheständer ein völlig fremdartiger Gegenstand ist. Die schmutzige Wäsche fast aller New Yorker waschen seit langem Chinesen. Nun ja, Designer, wie der Name schon sagt, umreisen nicht die Welt sondern umreißen sie. Ein guter Designer verzichtet auf modische Effekte, betont die Schönheit seines Materials und sucht durch Verbindung von Qualität der Ausführung mit zweckgerechter Schlichtheit der äußeren Form geschmacksbildend zu wirken. Members animatistisches Gebetbuch mit dem Titel: Beziehungsreicher Alltag hat diese Forderungen vorbildlich erfüllt. Alltag ist Werktag. Werktag ist grau. Also sind die Seiten grau. Über diese Seiten zieht ein Stabilo Point extra fine seine schwarzen Kreise. Eine lange Linie, die von Blatt zu Blatt Richtungen wechselt, Runden fährt und Umrisse schafft, die wir mit Namen nennen können. Es ist ein Buch für Erwachsene. Kinder lieben Farben. Die kleinsten Kinder nehmen überhaupt nur Farben wahr. Die Alten sind so verstört. Ihre Welt ist vollgestopft mit Farben, Tönen, Geräuschen, Gerüchen. Alle Sinne, Augen, Ohren, Nase sind so verstopft, dass sie Abends das Bedürfnis haben, ihr kleines graues animatistisches Gebetbuch aus dem Regal zu nehmen, wo es gleich neben dem manufactum-Katalog seinen angestammten Platz hat. Sie schlagen es auf. Sie blättern, andächtig murmelnd und sehen zu, wie das Leben in die tagsüber toten Gegenstände fährt.
"Du hausgeräth bei thoren und bei weisen; / dich, dose, soll die leier dankbar preisen." So oder anders lautet der Introitus, den die Bedürftigen leise flüstern. Sie bitten herzlich: "Möge alles fließen, Panta Rei". Die Linien fließen über die raschelnden Seiten und tanzen. Fromme Daumen lassen die Seiten fliegen wie einen Rosenkranz. Mutter aller Dinge befreie uns! Vom Haben müssen, vom Waschen, Putzen, Kochen müssen. Vom Dreiklang pfeifende Alessikessel. Vom postmodernen Klodeckel mit eingegossenem Stacheldrahtring. Vom endgültigen Brotkasten mit integrierter Ablagefläche. Von der makellos blitzenden Saftpresse. Vom Salzstreuer Kismet. Aufhören, bitte aufhören, die Dinge beim Namen zu nennen! Das Wunder geschieht. Das Gebet wird erhört. Die Konturen verschwimmen. Das Teesieb wird zum Schmetterlingsnetz, das die Wünsche nach wohltuender Leere fängt und dem Wäscheständer zuwirft.
Mir aber gefällt an den Dingen so gut, dass sie tot sind. Unbeweglich und unverrückbar, solang ich sie nicht bewege. Im Laufe der Zeit setzen sie Staub an. Dafür können sie nichts. Sobald mein Misstrauen gegenüber menschlichen Wesen zunimmt, sind es die Dinge, die mich in ihrer vertrauenerweckenden Reglosigkeit stützen. Ein Büchsenöffner. Eine Zitronenpresse. Ein Wäscheständer. Ein Stuhl. Viele Stühle. Ein Kamm. Wie der sich auf Wembers graue Seiten verirrt hat, weiß ich nicht. Seine Anwesenheit hier erscheint mir fragwürdig. Ist es vielleicht ein Kamm für Teppichfransen?
Als ich Kind war, lag in der linken Schublade des Küchenschranks genau dieser Büchsenöffner. Ein nicht kompliziert, aber mit gezielter Kraft zu bedienendes Gerät. Auch eine Zitronenpresse, gelb und aus Plastik, stand hinter einem Turm aus Schüsseln. Indem ich sie mir vorstelle, zieht sich mein Gaumen zusammen. Immerhin, meine Vorstellungskraft ist geübt. Wäscheständer kannte ich nicht. Eine Wäscheleine wurde im Garten von Stange zu Stange gespannt. Es gab auch einen Klammerbeutel mit alten und neuen Holzklammern. Alle diese Dinge gehörten mir nicht. Sie störten mich, wenn ich in Beziehung zu ihnen treten sollte. Die Leinen mit einem feuchten Tuch reinigen. Wäsche aufhängen, abnehmen, falten, die mir nicht gehörte. Dosen öffnen, deren Inhalt nicht ganz allein für mich bestimmt war. Meine Mutter war auch die Mutter aller Dinge im Familienhaushalt. Von ihnen ferngehalten zu werden, hätte mir sehr zugesagt. Angeblich jedoch vom Schicksal ebenfalls zur Mutter aller Dinge bestimmt, wurde ich angehalten, mir den Umgang mit ihnen anzueignen. Das wurde genannt: Sich mit den Dingen vertraut machen.
Warum, fragte ich mich als kleines Mädchen verdrossen, war ich nicht mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen. Wieso gehörte ich in diese Küche mit dem elfenbeinfarbenen Küchenschrank, hinter dessen von grünen Gardinen verhängten Scheiben sich Türme von flachen, tiefen, großen, kleinen Tellern und Tassen erhoben, in einträchtiger Nachbarschaft mit einem Sammelsurium von knisternden Gelatinepackungen, halbvollen Rabattmarkenheftchen, und Einmachringen? Das gute Porzellan mit Goldrand und die Kohorten von gravierten silbernen Gabeln, Messern, Löffeln, Tortenhebern, Gebäckzangen und rosengeformten Sahnelöffeln wurden im unteren Wohnzimmerschrank gehütet.
Die goldenen Löffel, mit denen der tropfnasse Frosch aus dem Märchenbuch neben einer indignierten Prinzessin seine Suppe löffelte, das waren Formen und Farben, die mir bis heute gefallen. Märchenhaft schön. Und ich stellte mir vor, ich bräuchte nur mittels eines Experten zu diesen mir angeblich von der Natur zugeordneten Dingen in Beziehung treten. Ein Butler bedient mich. Eine Köchin bekocht mich. Ein Hausbursche putzt und wäscht. Besonders an Sonntagen wurde dieser Wunsch übermächtig. Ihr Tempo war zäh wie vom Löffel tropfender Honig, gedämpft durchklirrt vom Porzellan mit dem Goldrand und beileibe nicht süß.
Der obligate Sonntagsspaziergang führte durch die geleerten Vorstadtstraßen leider nicht ins Wirtshaus "Em halve Hus", sondern zum Nordfriedhof, wo ich meinte, das höflich unterdrückte Gähnen der Toten zu hören. Kamen wir auf dem Rückweg an einer Haushalts- und Eisenwarenhandlung vorbei, wurde ich allerdings reich belohnt. In den Schaufenstern trafen sich Nähmaschinen mit karierten Regenschirmen, bunte Kinderbälle in Netzen mit Zitronenpressen, blitzende Wasserkessel mit Kaffeekannen aus feinem Porzellan, die am Schnabel bunte Schmetterlinge aus Plastik trugen, deren Schwämmchen, als Tropfenfänger fungierten. Stunden hätte ich vor diesen Auslagen verbringen können, Gartenschaufeln Grassicheln, Hausbesen, Straßenbesen und Laubbesen betrachtend. Ich war sicher vor ihnen. Ich konnte sie ganz in Ruhe angucken. Sie wurden mir nicht in die Hand gedrückt. Ich wurde nicht aufgefordert, mich zu ihnen in Beziehung zu setzen, beziehungsweise sie ergebnisorientiert in Bewegung zu setzen.
Die Dinge hinter den Scheiben waren zu interessanten Stillleben angeordnet. Sie bewohnten imaginäre Räume, die einmal zu den Museen meiner Kindheit gehören würden. Eine Zeit, in der mein Bedarf an Gebrauchsgegenständen äußerst gering war. Ich erinnere mich nicht genau, ob mein Interesse umgekehrt proportional zur Trostlosigkeit eines Sonntags wuchs. Denn ich ging alltags auch gern hinein, um die Geruchsmischung von Metall, Meisenknödelfett und Sonnenblumenkernen einzusaugen. Inmitten dieses herrlichen Durcheinanders, dessen Ordnung sich mir verschloss, hantierte der Besitzer im grauen gebügelten Kittel. Er fuhr mit Schäufelchen in die großen Schubladen mit verschiedensten Sorten Vogelfutter, die er mit Schwung aufzog. Er füllte die Körner rauschend in braune Tüten und verschloss sie rechts und links mit Kniff. Ach, hier delektierte ich mich frei von jeglichem Zwang.
Sicher, der elterliche Haushalt bot gewisse Vorzüge. Sie wurden nicht recht wahrgenommen. Kleiderbügel waren da. Sie hingen im Schrank, wenn einer gebraucht wurde. Schuhbürsten schlummerten an ihrem Platz, bis es Samstag wurde. Wenn die Schere benötigt wurde, zog man eine Schublade auf. Die Mutter bügelte. Sie kochte und benutzte Löffel, Schneebesen, elektrische Rührgeräte. Sie bediente die Waschmaschine. Hatte die Hoheit über Fein,- Woll und Buntwaschmittel. War die weiße Leinenhose befleckt, war sie nicht mehr ultrarein, warf ich sie in den Wäschekorb aus Weidengeflecht.
All diese Dinge im animatistischen Gebetbuch haben nichts miteinander zu tun und ich nichts mit ihnen. Ein Dosenöffner nicht mit dem Wäscheständer, das Teesieb nichts mit der Zitronenpresse, der Kamm nichts mit dem Stuhl. Wäre ich nicht irgendwann in die Welt hinaus gegangen, hätte sich keinerlei Notwendigkeit ergeben, einen Wäscheständer zu besitzen. Doch es kam der Tag, an dem ich Vater und Mutter verließ und aus dem halbierten Reihenhaus meiner Kindheit in zwei leere Zimmer zog. Plötzlich hieß es: Schon wieder eine saubere Hose? Wasch sie dir selbst! Eine Welt brach zusammen.
Raum und Zeit mussten völlig neu in Beziehung zueinander gesetzt und so geordnet werden, dass sie mich nicht überrannten. Doch sie schlugen über meinem Kopf zusammen. Der Verlust an Gemeinsinn war nicht zu leugnen. Nur das tote Mobiliar, die unbeseelten Dinge hielten mich und stützten mich. Sie hatten alle ihren Ort durch mich gefunden. Empfing ich Besuch, setzte der Gast sich in einen Sessel und rückte ihn geringfügig von seinem angestammten Platz, wurde ich unruhig. Dem Gast die gebührende Aufmerksamkeit vortäuschend, waren alle meine Sinne auf den verrückten Sessel gerichtet. Der Gast sollte endlich gehen, woher er gekommen war. Denn ich hatte den unbezwingbaren Wunsch, meine Ordnung wiederherzustellen. Endlich allein rückte ich den Sessel wieder an seine ihm zugewiesene Stelle. Ich fuhr mit der Innnenseite des Zeigefingers über den Herd und entfernte störende Flusen. Ich dekorierte Flasche, Schale, leere Vase exakt ins alte Arrangement zurück. Giorgio Morandi hätte seine Freude gehabt.
Es kam eine Zeit, in der ich aus zweieinhalb Koffern lebend mit Neid auf die wohlausgestatteten Wohngemeinschaftküchen blickte. Porzellan aus mütterlichen Beständen, Espresso- und Nudelmaschine suggerierten Heimat und eine Geborgenheit, die ich mir selbst in meiner Hinterhof-Parterre-Wohnung bedauerlicherweise nicht herzustellen vermochte. Die angemieteten Kredenzen waren leer. Haushaltsgegenstände, sonstige Alltagshilfen existierten nicht. Kündigte sich Besuch an, gestand ich verschämt, nur diese eine Tasse zu besitzen. Ließ es sich nicht länger vermeiden, den Konvent Rheinischer Theologiestudenten auch einmal bei mir tagen zu lassen, rannte ich zu Bilka oder zu Karstadt, um die umfangreiche Sammlung ausgemusterten Rosenthaler Porzellans zu durchforsten.
Jahre vergingen. Wieder stand die Neuordnung von Raum und Zeit auf dem Plan. Und wieder waren es Stühle, Sessel, Schränke, Tische, die mich stützten und bezwangen. Wer weiß? Irgendwann vielleicht wird auch in meinem Regal Frau Wembers animatistisches Gebetbuch lehnen, gleich neben dem manufactum-Katalog. Darin existieren nur Linien, die anfangen, Formen bilden, in eine andere Form hineinlaufen. Solang aber bleibt es: Das schöne tote Ding an sich.
Martina Wember: Beziehungsreicher Alltag. Deutsch/Englisch. Ritter-Verlag, Klagenfurt 2001, 128 S., 13,90 EUR
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