Das Rätsel der Herkunft

Naturmetaphern Iman Humaidan-Junis geheimnisvoller Roman "Wilde Maulbeeren"

Das Kind trägt Kleider, die aus den alten Muttersachen genäht sind. Die Mutter ist verschwunden, als das Mädchen drei Jahre alt war. Das Bild der Mutter im Kopf des Kindes ist selbst gebastelt. Aus den Gesprächsfetzen, die es aufschnappt. Aus umherschwirrenden Gerüchten in den Höfen, von der zusammengefalteten, vergilbten Fotografie unter ihres Vaters Bett. Sie zeigt eine unverschleierte Frau, eine, die dem Mädchen Sarah ähnlich sieht.

Wovon handelt dieses Buch? Vom anwesenden Vater? Von der abwesenden Mutter? Von einem Kinderleben ohne Wärme und Liebe, einem Frauenleben, das sich niemals entfalten wird? Erzählt die libanesische Autorin Iman Humaidan-Junis in ihrem zweiten Roman vielleicht von der Abwesenheit des Lebens selber? Oder ist die Geschichte so schwer zu begreifen, weil man nicht vordringt in diese fremde Wirklichkeit?

Der erste Weltkrieg ist gerade vorüber, als Sarah geboren wird, in einem libanesischen Dorf, das die Halbwüchsige so erlebt: "Der Ort ist weder Fisch noch Fleisch. Ein gemäßigter Ort ohne Extreme. Gemäßigt insofern, als auch die Uhren hier langsamer ticken. Zeit, die weder nutzlos verstreicht noch Hektik verbreitet." Der Vater ist Großgrundbesitzer. Er verdient sein Geld mit der Seidenraupenzucht. Zwei Monate im Jahr wird ein Großteil des Gutes, das inmitten von Maulbeerbaumplantagen liegt, zur Kokonfabrik. Schlecht bezahlte Arbeiter schaffen unermüdlich klein gehackte Maulbeerblätter für die gefräßigen Tiere heran und pflegen sie. Über die Seidenraupenzucht lernen wir einiges, viel mehr als über das Mädchenleben, das auch weniger Pflege und Fürsorge erfährt als die nützlichen Tiere.

Das Mädchen bewegt sich zwischen Drinnen und Draußen. Aus der von ihrer Tante bewirtschafteten, vom Vater beherrschten Hara flüchtet sie in die verschwenderische Natur. Da ist sie glücklich. Alle Metaphern der Empfindungen und Gefühle sind der Natur entlehnt. Sarah träumt von der Mutter. Sie fragt nach ihr bei den Frauen, bei den Arbeitern. Sie sei mit Engländern davongegangen. Sie wäre erstickt, hätte sie es nicht getan. Sie habe ihre Seele suchen wollen. So oder ähnlich lauten die geheimnisvollen Andeutungen. Ein statt "Schweiß Parfüm ausschwitzendes Phantom", sagt der Vater von der Frau, die vor ihm, dem Leben mit ihm, davongelaufen ist. Und noch etwas sagt er bitter: "Ein Salzkorn. Hat sich aufgelöst in Wasser," Spricht er da von seinen Tränen? Irgendwann muss die Tochter begreifen: Trotz aller Geschichten hat die Mutter keinen Namen mehr. Sie ist nur noch ein Personalpronomen. Ein grammatisches Femininum.

Sarah selber wächst heran. Ihr Körper verändert sich. "Beim Aufwachen schnürt sich mir die Kehle zu. Mein Körper krampfte sich zusammen. Mein Körper - diese Masse, die nun einmal zu mir gehört, ein Teil von mir ist, Tag und Nacht, und wächst wie Schimmel in der Wärme." Fremde, fremde Welt! Unwillkürlich fragt sich die Leserin, ob das Befremdliche dieses Vergleichs an der kulturellen Differenz liegt, an der eigenen Ignoranz oder einer misslungenen Übersetzung.

Wie ihre Protagonistin ist die Autorin Imam Humaidan-Junis in einem Dorf im drusischen Teil des Libanongebirges geboren, doch viel später, im Jahr 1956. Nach ihrem Soziologie-Studium arbeitete sie als Journalistin für die Kulturseiten verschiedener Tageszeitungen. Sie gilt als eine der interessantesten literarischen Stimmen des Nachkriegslibanon. Sie hat Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat einen Roman über Frauen in den Schrecken des Bürgerkriegs geschrieben. Der zweite Roman wurde, dank des Schwerpunkts der Buchmesse, aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Für wen hat sie dieses Buch geschrieben? Das ist keine abseitige Frage, wenn man bedenkt, dass selbst ein bekannter belletristischer Autor in der arabischen Welt mit seinen Büchern nicht ausreichend Geld verdienen kann, da es schlicht an Lesern fehlt.

Ihre Heldin geht zur Schule. Was lernt sie dort? Mit wem lernt sie dort? Warum? Um gebildet in die Ehe zu gehen? Oder um einen Beruf zu lernen? Diese Sehnsüchte könnte sie haben? Sie könnte ein Leben jenseits des Hauses wollen? Sie wird in die Stadt gehen und studieren. Beirut war vor dem Krieg eine lebhafte Metropole, eine aufgeklärte Großstadt. Und dieser Roman spielt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Unter welchen Bedingungen studierte ein Mädchen aus dem Dorf, das nur die englische Schule kennen gelernt hat? Wir wissen es nicht. Wir werden es auch nicht erfahren. Aber dem ersten fremden Mann, der das Innere der Höfe betritt, dem Sohn des Quacksalbers, der ihr das gebrochene Bein richten soll, schenkt sie ihre Liebe. Er wird ihr Ehemann. Denn er geht nach London, die Stadt, in der ihre Mutter verschwunden ist. Dort lebt sie, eingeschlossen in eine finstere möblierte Wohnung. Abgeschlossen von Kommunikation.

Aber noch gärt ihre Sehnsucht, das diffuse Bild der Mutter zu schärfen. Ihre Herkunft zu erkunden. Gegen ihre eigene Geschichtslosigkeit zu kämpfen. Vielleicht ahnt sie, dass sie ohne Klarheit über ihre Herkunft leicht die Zukunft verfehlen kann. Sie sucht Freunde ihrer Mutter auf, versucht, durch ein opakes Glas zu schauen und verzweifelt Konturen zwischen den Schatten auszumachen. Sie dringt vor an den Rand des Geheimnisses, wo sie stehen bleibt und aus Angst auf die Lösung des Rätsels ihrer Herkunft verzichtet.

"Ich mußte den Kreis schließen und bin zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. Dorthin, wo alles begann." Schwanger kehrt sie zurück ins Dorf Ain Tahun. "Nichts ist wie es war. Ein Haus, so leer wie meine Hände." Ihr Vater, der Scheich, kränkelt. "Er gleicht einer räudigen Katze". Mit ihm verfällt die Seidenraupenzucht. Die Maulbeerbäume verwildern. Wolken von Schmetterlingen werden den Kokons entfliegen. Und Sarah sieht ihrer Tochter zu, die mit dem ihr einst so kostbaren Foto der Mutter spielt, es greift und fallen lässt.

Iman Humaidan-Junis: Wilde Maulbeeren. Roman. Aus dem Arabischen von Kristina Stock. Lenos, Basel 2004, 130 S., 16 EUR


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