Man isst indisch. Man isst vorzüglich. Ja, man isst so hervorragend, dass das noblere indische Restaurant in der Oranienstraße nicht mehr in Erwägung zu ziehen sein wird. Ganz zu schweigen vom Inder an der Ecke, dessen Tagesgericht kürzlich als "Pikantes auf Reißbett" angekündigt war.
Zwei Tage hat der Gastgeber ununterbrochen in der Küche gestanden. Was er kocht, nennt er "Gericht des Daseins". Schwitzend hat er Hähnchenschenkel mariniert. Lammfleisch leicht gesotten. Vom Herd genommen. Wiederum gesotten, bis es in der herrlichen Tunke die zarteste aller Konsistenzen angenommen hat. Alles nur, um am heutigen Abend auf den empfindsamen Zungen der Gäste wie nichts zu zergehen. Kulturschaffende jedweder Couleur mit allerhöchstem Anspruch, sie alle sind sich einig und des Lobes voll. Und sie haben schon erlesen gespeist. Vor einigen Wochen zum Beispiel. Der Kanzler hatte einige auserwählt und sie am Abend zu sich gerufen. Was hat er gewollt? Was wurde gesprochen? Was hat er vor? Und vor allem: Habt ihr´s ihm gegeben? Alle Augen hängen an den fettig glänzenden Lippen der Schriftsteller. Der eine windet sich. Der andere wehrt ab. Sie hätten ihr Pfadfinderehrenwort gegeben. Kein Wort zum Volk! Lautes Murren in der doch enttäuschten Runde lässt sich hören. Aber was gab´s denn nu zu essen? ruft die Kinderliedautorin. "Kocht die Köpf selbst?" fragt ihre vorwitzige Tochter, die zuvor schon mit der Blitzrezitation eines Brechtgedichtes in eine Gesprächslücke hinein unangenehm aufgefallen war. "Na ja, kam halt vom Adlon," teilt der politische Essayist mit. Och, von derlei Banalität beleidigt, wendet man sich ergiebigeren Themen zu. Zum Beispiel dem Sportteil der neuen Sonntagszeitung, der doch eher minderer Qualität sei. "Liest man so drüber und weg", meint der Kenner launig, und leert sein Glas zur Neige. Der Kritiker lacht. Das fotogene Porträt in der morgigen Ausgabe, "Schriftsteller hält sein jüngst erschienenes Buch", ist ihm schon bekannt. Die aufgeräumte Stimmung unter den Feinschmeckern nutzt die Kinderliedautorin um die erste Pressung ihres Tonträgers vorzustellen. Ihren prächtigen Schal bei jedem Satzanfang von neuem um den Hals werfend, weiß sie geschickt den Eindruck zu erwecken, zumindest die Hälfte aller Jugendbildungsanstalten im näheren Osten seien auf ihren Namen getauft. Angemessen ehrfürchtig lässt man die Scheibe rotieren wie eine versilberte Hostie.
Alles wäre gut und wunderbar, Zustimmung allerseits. In friedlichstem Einvernehmen lässt man das Dinner sacken. Der Gastgeber mit einer gestärkten Schürze bekleidet betritt eben die Küche, um sein Spitzenmenü mit einem fruchtigen Dessert zu krönen: Da ruft ein Gast ihm enthusiastisch hinterher:"Mann, wenn deine Gedichte so gut sind wie dein Essen!" Jetzt ist die Katze aus dem Sack gelassen und das Unglück da. Da nahm der Mops den Löffel. Der Meisterkoch ist ein Dichter. Mit Leib und Seele. Bei allem was er für die Mägen seiner Gäste übrig hat, er will als Poet gerühmt werden. Er hat Tage und Nächte am Schreibtisch verbracht. Wörter gewürzt und Metaphern gespickt, Sätze manieriert und einen Verleger gefunden. Schlussendlich hat er zum Verzehr geladen.
Alles wäre gut. Aber er hat Dichter eingeladen und Kritiker und Sänger. Der Kritiker seufzt: Schade! und erhebt sich mit knarrenden Gelenken. Er klemmt die Flasche feinsten indischen Whiskys unter den Arm, die vor seinem Gedeck gestanden hat. Er hat es plötzlich sehr eilig. Er vergisst seinen Regenschirm im Flur des Dichters, der ihm schnell ein Exemplar der neusten Lyrik dafür in die leere Hand drückt. Er vergisst seine Frau in des Dichters Küche, die sich eben zum dritten Mal Hähnchen Tandoori auf den Teller geladen hat. "Lies uns etwas!" hat in diesem Moment die Ikone des Kinderlieds nochmals inständig gebeten. Nun ist keine Zeit zu verlieren. Der vorzügliche Koch, der aber ein Dichter ist, liest aus seinem Werk. Er ist zart. Er ist sensibel. Er vergewaltigt Träume. Er gräbt nach Wörtern. Die Erstarrung der ihm Lauschenden wird dann und wann gelockert durch Entzückungszwitschern. Im Sessel des geflüchteten Kritikers fläzt sich der politische Essayist. Was kümmern ihn durch Verse fliegende Fische? Er verschwindet in der Küche, um einen stinkenden Zigarillo zu entzünden. Dort lehnt die Tochter, neben der immer noch spachtelnden Kritikerfrau. Die seufzt. Ihr wird nun die hochkomplizierte Struktur des Romans erklärt, der die Tochter seit nunmehr drei Jahren zwischen Schule und Sport pausenlos beschäftige. "Jetzt hat bald jeder sein Romänchen geschrieben", repetiert sie lautlos den letzten Satz ihres Mannes, bevor er mit wehenden Schößen das Haus verließ. "Halten Sie sich ran" sagt sie genießerisch am Hähnchenfleisch kauend und tastet mit der Zunge nach einer Fleischfaser zwischen den Goldkronen. "Oder können Sie auch kochen?"
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