Ein junger koreanischer Intellektueller, der schon lange in Deutschland lebt, wird von seinem Professor gebeten, bei einem Treffen zu dolmetschen. Zu seiner Überraschung soll er einen Dokumentarfilm übersetzen, den er gut kennt. Der ARD-Berichterstatter Jürgen Hinzpeter hatte 1980 in Kwangju den grausam niedergeschlagenen Aufstand gegen die südkoreanische Militärdiktatur dokumentiert. Erst durch seinen mutigen Einsatz wurde die Welt über das brutale Vorgehen der Soldaten gegen friedliche Demonstranten im Südwesten Koreas informiert. Er bezahlte für seine mitfühlenden und couragierten, unter Lebensgefahr aus dem Land geschmuggelten Reportagen mit dem Verlust seiner Gesundheit. Hinzpeter wurde von Polizisten zusammengeprügelt und lebensgefährlich verletzt. Jahrzehnte später, vor einer schweren Operation, versammelt er nun seine Freunde ums Krankenlager, alte Achtundsechziger wie er, und eröffnet ihnen seinen Wunsch, in Kwangju begraben zu werden.
Der Politologe Sin-Ju ist überrascht, wie stark er die traumatischen Ereignisse verdrängt hat. Selber Protagonist der Studentenunruhen 1987, muss er sich zwingen zu übersetzen. "In jenem Augenblick fühlte ich mich beschämt und empfand das Übersetzen als eine Art Vergeltung für mein Verhalten. Auch gestehe ich ein, daß ich mich überwinden mußte, vor Menschen eines anderen Volkes dieses schändliche und traurige Kapitel unserer Geschichte Wort für Wort aufzurollen. Obwohl diese Leute Linke waren, die die Ereignisse in Kwangju einordnen konnten, war es mir nicht möglich, diese Barriere in meinem Kopf zu überwinden."
Die 1963 in Seoul geborene Gong Jiyoung schrieb ihre Geschichte Stimme des Gewissens nach einem Deutschlandaufenthalt. Das historische Material - der Film existiert tatsächlich - bettet sie in die Suche des Protagonisten nach der eigenen Geschichte und Identität, die wiederum in eine Schicht früherer, das Land prägender Ereignisse eingeschrieben sind. Durch die sich kreuzenden unterschiedlichen Perspektiven, fremde Blicke, die auch die deutsche Geschichte streifen, bietet der fiktive Text eine interessante Reibungsfläche zum Nachdenken über das Beziehungsgeflecht von jüngster Geschichte und Gegenwart in Ost und West.
Diese 2004 veröffentlichte Geschichte beschließt die vom Deutschen Taschenbuch Verlag herausgegebene Sammlung Koreanischer Erzählungen. Von der Herausgeberin Sylvia Bräsel klug gewählt und kommentiert, bieten sie einen Querschnitt durch die Literatur des Landes, der von der "Hangul-Generation" bis zur "Generation 386" reicht. Während die ersteren nach der Befreiung von der japanischen Fremdherrschaft in der bis dahin verbotenen Muttersprache Koreanisch (Hangul) ausgebildet werden konnten, besuchte die "Generation 386" in den achtziger Jahren die Universitäten, ist aber in ihrer politischen Bedeutung den deutschen "68ern" vergleichbar.
Jede einzelne Erzählung, selbst wenn sie einen scheinbar ganz gewöhnlichen Tag in einer noch von konfuzianischer Tradition geprägten Familie schildert, wird vom roten Faden politischer Ereignisse durchzogen. So können die acht Geschichten wie ein Kompendium zur jüngsten Historie, zu Entwicklungslinien und Tendenzen der koreanischen Literatur gelesen werden. Wobei der Leser nicht umhin kommt, einige Fußnoten zur Kenntnis zu nehmen, um die Hintergründe wirklich zu verstehen.
Was wissen wir von Korea, dem bis 1945 von den brutal herrschenden japanischen Kolonialherren selbst die eigene Sprache verboten wurde? Ist uns geläufig, dass dieses Land, zerrissen durch einen Bruderkrieg und bis heute durch den 38. Breitengrad in Nord und Süd zerschnitten, eine der ältesten und reichsten Kulturen Ostasiens besitzt, Landschaften von atemberaubender Schönheit? In Korea seien deutsche Autoren sehr beliebt, erfährt man im Interview mit dem in beiden Teilen gleichermaßen bekannten Schriftsteller Hwang Sok-yong. Die Teilung Deutschlands und der Kalte Krieg, meint er, seien Erfahrungen, die trotz der so unterschiedlichen Kulturen Gemeinschaft stiften. (Eine Teilung verbindet.) Im vorigen Jahr wurden fast 600 Bücher aus dem Deutschen ins Koreanische übersetzt. Dass ein ähnliches Interesse der deutschen Verlage an koreanischer Literatur, sei es Lyrik oder Prosa, erkennbar wäre, kann man nicht behaupten. Eine koreanische Übersetzerin beklagte sich über die Tatsache, dass der ehemalige Unterdrücker Japan auf so viel mehr Interesse in Deutschland stieße.
Der Dichter Hwang Chi-Woo, der als Generaldirektor des Organisationskomitees den Gastlandauftritt Koreas auf der Frankfurter Buchmesse vorbereitet, erzählt die Geschichte von einem Dichter, der sich an einer wunderbaren Landschaft berauschte. "Auf den Bergen blühen und verwelken rote Azaleen", notierte er. Warum brachte ihn dieser Satz ins Gefängnis? Der Gebrauch des Wortes "Rot" musste bestraft werden. Hätten die Azaleen doch weiß geblüht! Der Dichter lebte in Südkorea, die Azaleen blühten in Südkorea und das Gefängnis stand ebenfalls in Südkorea, das heute die antikommunistische Eiszeit hinter sich gelassen hat. Auch in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjönjang ist eine Filiale des Goethe-Instituts eröffnet worden. Was das heißen mag in einem Land, aus dem kaum Nachrichten, geschweige denn Erzählungen zu uns dringen, wissen wir noch nicht.
Doch einmal schon haben sich Dichter und Schriftsteller des geteilten Landes im Norden getroffen. Unter dem Eindruck der Schönheit der ungeteilten Natur, "vor den zierlich geschwungenen Linien der Landschaft hinter dem weiß umhüllten Po-tae-Berg, dort riefen wir unseren Wahlspruch "Literatur ist eins!" und übersprangen dabei alle Mauern, die die Politik der Welt errichtet hat", so berichtet Hwang Sok-yong, der für seine eigene Reise 1989 nach Nordkorea noch mit Exil und Gefängnis bestraft worden war.
Auch der Suhrkamp-Verlag hat neue Geschichten aus Südkorea herausgebracht. Der Band, mit dem Titel Die Sympathie der Goldfische umfasst eine Auswahl von vier längeren Erzählungen bedeutender Gegenwartsautoren, wobei man von der 1931 in Gaepung geborenen Park-Wan-Seo sofort mehr lesen möchte. In Die Gezeichnete erzählt sie in einer klaren, poetischen Sprache von einer Frau, die glaubt, wenn sie nicht zu Hause sei, passiere stets ein Unglück und allein ihre Abwesenheit sei für die schrecklichen Ereignisse verantwortlich. Sie ist intelligent, reflektiert und weiß, dass die sie heimsuchenden Zwangsvorstellungen von einem schlechten Gewissen herrühren. Sie ist in der glücklichen Lage, außer Haus selbst die Existenz ihrer Kinder zu vergessen. Diese Fähigkeit, alles auszublenden, ganz und gar den Augenblick zu leben, ihm zu verfallen, ist allerdings, so erfahren wir unerwartet, hart erarbeitete, höchste Verdrängungskunst.
Auch die drei voranstehenden Geschichten sind lohnend. Da der Herausgeber Friedhelm Bertulies in seiner verschwommenen Einführung aber mehr Wert auf eigene Interpretation und weniger auf gediegene Information setzt, wird dem Leser manches unverständlich bleiben. Gerade in einer ersten Auswahl wären kahle historische Fakten hilfreicher, als die Autoren mit Martin Walser, Kafka, oder Wolfgang Hildesheimer vergleichen zu wollen. Das ist eine Veralberung des Lesers und der Förderung und der erwünschten Verbreitung von Literatur aus einem fast unbekannten Land nicht dienlich.
Koreanische Erzählungen. Herausgegeben von Sylvia Bräsel und Kwang Sook-Lie. Dtv, München 2005, 252 S., 8,50 EUR
Die Sympathie der Goldfische. Neue Erzählungen aus Südkorea. Herausgegeben von Friedhelm Bertulies. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 286 S., 15 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.