An einem traurigen deutschen Sonntag liegt jemand auf dem Bett. Grau ist der Tag wie alle deutschen Sonntage seit der Jahrtausendwende. Es regnet. Der Fernseher läuft und ein biologisches Ereignis tritt ein. Das von Bo-Tox noch unberührte Gesicht unserer Heldin hat sich in die ersten Falten gelegt. Sie ist im Begriff, ein welkes, unsympathisches und trauriges Tier zu werden, das Volkes Mund gemeinhin als "Frau mittleren Alters" qualifiziert.
Einmal hatte sie Sehnsüchte. Das war kurz nach dem sie ihre Jugend zwischen grauen Häusern, aufgeschwemmten Menschen und lähmender Hoffnungslosigkeit hinter sich gelassen hatte. Fort aus der DDR, rein in den Westen, der alles versprach und nichts gehalten hat, der nur eine Sehnsuchtsvernichtungsmaschine ist für alle, die zu dumm für den Kapitalismus sind. Jetzt ist sie eine Mutantin, der das Leben passiert. Irgendwas arbeiten, tiefgekühlte Sachen essen, vor der Glotze hocken, schlafen. Die Protagonistin redet nicht gern mit Menschen. Die Kontaktscheue weiß ja: "Die Menschheit ist schon immer Scheiße gewesen." Insofern wäre ein kleiner Weltuntergang doch das Beste, was ihr passieren kann. Da muß sie sich nicht mehr schön machen. Auch keine Gymnastik mehr treiben. Praktische Kleidung ist angesagt. Möglichst in gedeckten Farben. Denn die Kolorierung von Katastrophen bewegt sich in der Farbskala zwischen Kotze, Kot und Blut.
Die Heldin beginnt sich für die Weltlage zu interessieren. Sie liest Zeitungen und Bücher. Weiß auf einmal, wo der Irak liegt, der Osten, der Westen. Sie bildet sich Meinungen, die durchaus die unseren sein könnten. Überraschenderweise nicht selten gar die unseren sind. Zum Beispiel über Frauen weiß sie richtig Bescheid. Ja, ja, ja. Sie türmt Wissenswertes zu Stapeln aufeinander. Immer wenn sie glaubt, das muß ich wissen, flugs die Schere her. Auf den Info-Kompost damit. Sie hat Bomben-, Ost-West-Konflikt-, Biowaffen- und Geschichtshaufen.
Herrlich, da studiert jemand Lexikonartikel für uns, die Leser. Hört zu, sieht fern und bereitet mit den überlebensrelevanten Ingredienzien mundgerechtes Info-Sushi. Das spart Zeit. Wer wissen will, warum die Welt untergeht, informiert sich. Doch der mündige Leser weiß, die dünne Geschichte in dem dicken Buch bringt das nicht voran, und er liest drüber weg. Frau Berg aber nutzt die Gelegenheit, alle ihre Meinungen zu diesem und jenem unterzubringen. Ein toller Trick und so lektürefreundlich. Was denkt Frau Berg über Deutschland, über Geschenkeläden, Männer, Frauen, Lifting, Styling, Pädophile und und und. Fragen Sie Frau Sibylle!
Frau Berg legt gesammelte Meinungen wie PVC-Platten in einer Altbauküche aus. Das ist recht und vor allem billig. Darüber legt sie schmale Intarsien von schrottigen Untergangspanoramen. Infohaufen? Blättern Sie weiter. Der Lauf der Geschichte ist so oder so nicht aufzuhalten. Auch O-Töne knistern, rauschen und erläutern uns, den Lesern, den Weltengang. Arme Authentizitätsvortäuschungen, Pappkameraden, hinter denen Frau Berg sich versteckt und HuHu! ruft. Das nennt sie "Verdichtung von Realität".
Auf Seite 113 passiert es. Die Heldin sitzt im Café. Eine Bombe explodiert. Die Heldin erkennt starr vor Staunen: Nun ist der Schrecken aus dem Fernsehen endlich ins Alte Europa gekommen. Das ist der Anfang vom Terror ohne Ende. Mysteriöse Seuchen, Sintfluten und das ganze übrige Katastrophensortiment werden aufgefahren. Unsere Heldin ist nicht ganz echt. Das hat Frau Berg schon in der ersten Kapitelüberschrift angemerkt. Sie will nicht die Welt retten. Nur sich selbst. Die Welt ist nämlich nicht mehr zu retten.
Doch Katastrophen läutern. Die tiefgefrostete Heldin beginnt innerlich zu tauen. Ein Märchen beginnt. Eine Aufgabe muß erledigt werden. Die Heldin assistiert einer fetten, ihres Lebens müden Frau bei der Selbstabschaffung. Dafür wird sie reich belohnt. Badewasser temperieren und parfümieren, Pulsadern aufschneiden, Led-Zeppelin-Liedchen summen, Hand halten. Sie begreift plötzlich, dass eine Berührung dann und wann das Leben bereichern kann. Für diese hart erarbeitete Erkenntnis darf sie im Katastrophenmonopoly eine Runde vorrücken. Sie findet den Schmuck der Dicken und versilbert ihn umgehend. Denn Geld regiert die Welt. Erst recht, wenn sie zerfällt.
Welche Funktion kann so ein Buch haben? Fernsehen können wir selber. Zeitung lesen auch. Über die ganze blöde Idiotie unserer Weltwegwerfgesellschaft wissen wir in diesem unserem kleinen Rahmen schon Bescheid. Frau Berg peitscht mit schneidenden Sätzen das widerlich wabbelige Geschmeiß inklusive seiner beschissen designten Sitzlandschaften auf Abstand. "Sie wollen nur wirken, die Worte, die Sau!" Das Grauen von sich wegsprechen und vom Leib halten. Buchstäblich!
Sibylle Berg kann schreiben, kein Zweifel. Ihre kalt gerührten Eintöpfe hat die schwarze Köchin sprachlich stets auf den Punkt gegart. Züchtigungswillige Leser können viel Freude an brillanten Formulierungen haben. Aber die Zutaten werden fad. Immer ist Weltendämmerung. Nur im großen Ragnarök kann sich ihr Ekel vor allem Verweslichen in Wohlgefallen auflösen. Aber es hat fast den Anschein, als habe Sibylle Berg ihre Existenz als dominante Spannerin und Fundamentalistin mit Auslöschungsphantasien satt. Ihr Roman hängt plötzlich zwischen Leserzüchtigung und kuscheligem Sehnsuchtsprojekt. Ihre Heldin erinnert sich an die Kindheit in der DDR. An das Gefühl der Leere, damals bei der Ausreise, hinter der Grenze, ergriffen von der Furie des Verschwindens. Da wird das Pappmaché brüchig. Fast lebendig steht sie da.
Und darf nach Norden fliehen um ihr Glück zu finden. Helles wunderbares stressfreies Finnland! Die Erlösung besteht aus der Rückkehr zur Einfachheit vulgo skandinavischem Edeldesign, aus Gartenarbeit und sensibler Nachbarschaftshilfe. Lesen wird großgeschrieben. Ein Wunder ist geschehen. Sybille Berg beschert sich einmal ein glückliches Ende. "Lesen genügt, als Lebensinhalt," begreift endlich auch das einst halbtote Tiefkühlwesen. Und ein stummer Mann ist angenehm anwesend. Wer weiß, wie sehr die Berg den japanischen Bestsellerautor Haruki Murakami und seine Geschichten schätzt, ahnt wohl, welche Träume, Wünsche und Sehnsüchte sich unter ihrem gußeisernen Küraß verbergen mögen. In einem Interview mit dem Magazin Focus machte die Schriftstellerin jüngst den Vorschlag: Dass die Menschen doch das Ruder herumreißen mögen und sich´s ein bisschen nett machen. Dazu gehört, dass man alten Frauen zuhört. Kinder im Arm hält. Und ein bisschen dabei fühlt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.