Hier war doch mal

Berliner Abende Gern singt Herr M. das Lob auf den Flaneur. Doch selber zieht er stets die kürzeste Strecke vor zu gehen. Sein Weg ist die Gerade von A nach B. Wie ...

Gern singt Herr M. das Lob auf den Flaneur. Doch selber zieht er stets die kürzeste Strecke vor zu gehen. Sein Weg ist die Gerade von A nach B. Wie seine Begleiterin einen ciceronischen Schlenker zu machen, oder eine spaziergängerische Pirouette über XYZ zu drehen, kommt ihm nicht in den Sinn. Was sie liebt, liegt ihm fern.

Nun, da es vorkommt, dass sie der einsamen Spaziergängerei überdrüssig wird, wagt sie es, fragt sie ihn. Nein, er winkt ab. Seine Miene zum Spiel drückt unendliches Angeödetsein aus. Doch sie beschwört ihn. Sie lockt ihn süß, wie weiland die Sirenen den Odysseus. Er sitzt in Wachs gegossen am Computer. Sie umschlingt ihn, sie bekniet ihn, sie beschimpft ihn: Quietistisch und bewegungsfaul! Schlägt endlich ein Ziel vor und der Sieg ist ihrer. Stöhnend steigt Herr M. in seine Schuhe. Ächzend wirft er einen Mantel über. Er hebt den rechten Zeigefinger und spricht mahnend zu ihr von den sieben Todsünden der Großstädterin.

Erstens sollst du nicht immerfort stehen bleiben. - Dann sollst du auch den Hundedreck, der aus dem Pflaster wächst wie Kadmos´ Drachenzähne, tunlichst ignorieren. - Du sollst nie fragen: Wusstest du übrigens? - Auch niemals einen Satz beginnen mit: Erinnerst du dich noch? - Herr M. wird lebhafter in seiner Rezitation: Sowieso vermeidest du den Satzanfang: Hier war doch mal ... - Waren das jetzt schon Sieben? Herr M. reibt sich die Hände in Vorfreude auf einen so herrlich ungestörten Gang. Während er umständlich seine Außenbekleidung vervollständigt, leiert er die nächste Weisung wie ein Trommel schlagender Dorfbüttel: "Mit sofortigem Abbruch des Spaziergangs bestraft, wird unzulässige Speisekartenlektüre. Dieselbe Strafe folgt auf dem Fuß dem unbefugten Zurückbleiben zum Zwecke einer Hausbeschriftungsentzifferung", schließt er mit Aplomb.

Gleich auf der Straße zieht Herr M. das Tempo an. Was kümmert sie´s? An vielen leeren Läden laufen sie vorbei. "Dir ist bekannt, dass hier ein Stasi-Objekt war?" - "Hmm", macht Herr M. "Und schau mal, da drüben, die beiden alten Herrschaften in ihren gestärkten Kaufmannskitteln, ich glaube, die machen auch bald zu. Kuckma, da liegen nur noch Grabower Küsschen auf dem Regal. Ist doch schade, oder?" - "Ahem", nickt Herr M. Er rollt ein wenig mit den Augen. Und immer fort spazieren sie, allegro con moto, an ausgeleerten Geschäften vorüber. "Was hier früher los war", sinniert die Begleiterin. "Stell dir vor, wie die Straßenbahn hier um die Ecke gerattert kam. Und nach dem Mauerbau konntest du x-mal kontrolliert werden." "Und was war hier noch mal?" fragt er mokant und steht vor einem Stillleben aus Plastiktüten mit Kaninchengras und dekorativ gehängten Wegwerfstrapsen. "Pille, Palle And More"? Sie macht ein ratloses Gesicht. "So also gehst du durch die Welt", sagt Herr M. und lässt seine Stimme mit Strenge auf dem Du vibrieren. "Ha, jetzt fällt´s mir ein!" ruft sie erfreut und boxt ihn in die Rippen. "Ramis Shopping Shop!" Herr M. verdreht die Augen: "Ach Gott. Da ist ja keine Hilfe!" deklamiert er seufzend und schreitet eilig aus.

Warum nur hat dieser Mann keine Freude am Dechiffrieren und Entschichten der aufgetürmten Steine dieser Stadt? "Warte doch mal!" Sie hastet schnaufend hinter ihm her. "Warte!" Es ist doch so. Speisekarten studieren erweitert enorm den Horizont. Könnte sie sonst, stante pede, verkünden, dass im Monte Cruz ein Getränk namens: "Bundeskanzler" zu ordern sei. "Was soll das sein?" "Lauwarmes Wasser mit Eiswürfeln!"Der Mann von Welt mit Ziel, doch ohne Sinn für Chronik, Detail und Dokument macht kurz "Haha". Dann marschiert er zügig weiter. Für die Katz also die kümmerlich blinkenden Leuchtschlangen der Gastwirtschaft Zur Letzten Ölung. Für die Katz auch die sorgsam ins Pflaster geklopften messingnen Stolpersteine. Zu klein die Signaturen. Nur die leidenschaftliche Leserin der Trottoirs wischt mit der Schuhspitze vorsichtig den Schnee von den Buchstaben. Aus dem bleichen Winterhimmel über ihr verabschiedet sich die Sonne nach kurzem Auftritt in orange verblassenden Streifen. "Narren hasten. Kluge warten. Weise gehen in den Garten", murmelt sie vor sich hin. Langsam wandert sie weiter, memoriert und schlendert. Herr M. schon um drei Ecken, blickt zurück, knirscht mit den Zähnen. Die mnemotechnische Angestellte der großen Stadt verharrt vor Farben Sachse. "Schellack astrein", prononciert sie ergriffen. "Hautleim / Knochenleim / Fleischmull / Mastix / Drachenblut!" Ein Gedicht, das auf der Zunge zergeht! Herr M. verkürzt nun schlecht gelaunt die Gnadenfrist. Stumm steht man an der Ampel wie auch ein anderes Paar. "Sag mal, sind wir denn auf dem richtigen Weg", erkundigt sich jener, mit einem Rucksack schwer Bepackte. "Och, wir sind eigentlich nicht auf dem Weg zu irgendwas", gibt diese leichthin zur Antwort. Die Küssenswerte!


12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden