Irgendwann in Babylon

Berliner Abende Guten Morgen! Gün aydin! Die Sonne geht auf in unserer deutschen Hauptstadt. Die Nachtarbeiter wanken müd´ geschuftet ins Bett. Verschlafene ...

Guten Morgen! Gün aydin! Die Sonne geht auf in unserer deutschen Hauptstadt. Die Nachtarbeiter wanken müd´ geschuftet ins Bett. Verschlafene Tagarbeiter reiben sich Traumreste aus den Augenwinkeln. Und drunten vor dem Kiosk sind sie alle schon versammelt. Der Verein der Zeittotschläger zwitschert sich eins. Oder zwei.

Da hastet jemand, Kiepe gebuckelt, durch die windleeren Flure einer pädagogischen Anstalt. Umrempelt von schlafverklebten, jungen Blindschleichen auf dem Weg in ihre babylonischen Turmzimmer, wird schwer geschleppt an Care-Paketen für Sprachverwirrte. Das Wesen heißt: Lesepatin. Hält sich vorwiegend in Klassenzimmern auf. Ist aber ursprünglich nachtaktiv, so ein Lesewesen. Existiert übrigens fast ausschließlich im femininum. Pflanzt sich fort durch Mundpropaganda.

Einmal wöchentlich kriecht es hoch in den Turm zu Babel. Es klettert keuchend zwei Treppen hinauf, das muskelarme, leselustige Papiertier. "Hallo! Barbara!" Fouad schlurft aus der Garderobenecke und lächelt freundlich. Namo und Leon liegen im Kampf zwischen vielen Schuhpaaren, die es nicht bis ins Regal geschafft haben. "Babbara, hallo Babbara", presst Markus heraus. Er hat nie Zeit, die Wörter vollständig auszusprechen. Jeden Vokal, alle Konsonanten zu umrunden und zu kneten, kostet einfach zu viel Lebensenergie. Das muss vermieden werden. Er kreiselt. Er wirbelt aufgeregt um die Lesepatin herum.

Julia lächelt sehr. Hellblondie. Rosa T-Shirt. "Willst du mal sehn, was ich drunter habe?" fragt sie stolz. Die Lektürepatronin zieht die Stirn kraus: "Sag bitte nicht, dass du", sie zögert, "ähm, ein Bikinioberteil trägst." Julia kichert, hält ihre zarte Stupsnase hoch, lässt einen Träger aufblitzen, wendet sich der Zöpfchen schüttelnden Louna zu. Die quetscht zärtlich Julias Stofftier. Kann es Liebenswürdigeres geben als einen plüschernen Mastiff mit silbernem Maulkorb? Achmed hält Hakans Hals in seiner Armzange. Er lockert sie ein wenig und sieht bewundernd und sehnsüchtig zu Laura. "Echt krass", stößt er leise zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor. Die Lesepatin schiebt sich in ihr Revier; windet sich zwischen Anlauttabelle und Cems ratlos umherstehendem Vater hindurch. Sie begrüßt ihn. Er vermurmelt sich, an ihr vorbei, in gebeugter Haltung, in seinen Mantelkragen hinein. War das jetzt türkisch? Oder schon babylonisch?

Angeekelt wedelt die Buchstabenfresserin eine Diddelmaus beiseite. Ihr Blickfeld verdunkelt sich im mächtigen Schatten eines weiblichen Hinterteils. Gluckenparade! Das Kind allmorgendlich nachzubrüten, ist die vornehmste Aufgabe. Mutters Kuchen vor aller Augen in Sohnemanns Frühstücksbüchschen zu stopfen. Erkans Mutter hat sich auf dem Tisch ihres Sohnes niedergelassen. Ihre verdrossene Miene teilt Dringendes mit: "Mein Sohn! Einziger! Goldschatz! Niemand fördert seine Begabungsreserven. Wie auch? Keine Zucht, keine Ordnung!" Sie spricht nicht deutsch. Aber sie spricht laut. Und, oh pfingstliches Wunder, jeder versteht sie. Anklagend hält sie der Lektürepflegerin die Ferienempfehlung entgegen. Cornelia Funke für Erstleser. "Zu schwer. Macht keinen Spaß. Lieber will er das!" Des Sohnes Mondgesicht erglänzt über Walt Disneys hässlichem Entlein. Bevor ihre Gesichtszüge entgleisen, verschwindet die Lesetussi auf dem Klo. Baut sich vor dem Spiegel auf und konzentriert sich auf den "Punkt der hundert Strapazen". Danach mentales Matronenschubsen.

Rückkehr nach Babylon. Ein schnatternder Kinderhaufen versucht, sich rund um den Teppich zu versammeln. Scheint komplizierter als eine UNO-Versammlung. Nein, ich will nicht neben dem sitzen. Neben Mädchen nicht. Mag nicht neben Cem. Der pupst. Achmed schubst mich immer. Laura! Die tritt mich! Emma tanzt noch den Flur entlang. Sie wiegt sich mit ihrer Mappe auf dem Kopf hin und her. Und singt: "Ich will nich´. Ich muss nich´. Ich brauch´ nich´".

Endlich. Alle sitzen. Nein. Muhammed nicht. "Der will nicht neben Louna sitzen", brüllt Markus. Alle starren den Jungen aus Adana an. Er duckt sich. Warum nicht? Seine Augen fest auf den Boden gerichtet, flüstert er über seine Zunge stolpernd: "Die ist mir zu braun!" "Selber kackebraun!" ruft Achmed. Louna saugt ihre Mundwinkel ein. Schüttelt ihre Zöpfchen. Jonny Ho wirft sich energisch mitten ins Wortgewimmel: "Manno! Ich will jetzt endlich mein Buch empfehlen!" Die Lektürepatronin ruckelt sich zurecht im ziemlich engen Turm zu Babel, zwischen dem kleinen Kantonesen und Fouad aus Beirut. Sie fragt: "Wie heißt es denn?" Jonny blinzelt durch die neue Brille: "Ürgendwie anders". Er blättert. Dann liest er ein bisschen stockend die erste Seite vor: "Auf einem hohen Berg/ wo der Wind pfiff/ lebte ganz allein/ und ohne einen einzigen Freund/ Ürgendwie Anders".


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