Menschen am Sonntag

Berliner Abende Kolumne

Es ist Sonntag. Glocken haben geläutet. Sonst aber ist es stiller als an anderen Tagen. Selbst in der großen Stadt, wo die Alltagstrinker auch die heiligen Trinker sind. Da kommt es vor, dass sich einer was fragt. Und nach Daseinszwecken sucht. Um den ursprünglichen Grund seiner irdischen Existenz festzumachen. Die Antwort, meine Freunde, weht durch den Sommertag leicht wie die Wolken im Wind. Bis da hinten, draußen im Park, wo ihr den Menschen Gerätschaft und Kohle heranschleppen seht.

Ich schlendere gemächlich über den geschundenen Rasen und sehe ihnen zu. Die Herren Häuptlinge rackern und schwitzen und stochern im qualmenden Grillgut. Die Frauen, meist sittsam verhüllt, lagern still oder schwatzend beiseite. Aber wie doch die Sinne von Keulenschwinger zu Keulenschwinger verfeinert und geschliffen wurden. Ich höre sie dichten, die Jungen. Unter den flatternden Rauchfahnen sitzen sie, schlagen sich auf die Schenkel und rezitieren blutrünstig: "Meine Hunde suchen dich/ Meine Hunde beißen dich/ Sie bellen und zerreißen dich" Am siebten Tag, am Lagerfeuer, findet so mancher zum Seinsgrund.

Auch ich, an diesem sonnendurchflochtenen Mittag, lasse töten, schlachten, schneiden, braten, auf den Teller legen. Wie im Märchen ist es immer von neuem das Gesottene und Gebratene, das dem Kind das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt. Am Parktor, hinter Glas drehen sich ruckelnd unsere entfiederten Gesellen am Spieß und werden geröstet wie weiland Sankt Laurentius. "Die Seite ist knusprig. Jetzt könnt ihr mich wenden", ächzte der Gemarterte. So ist der Mensch. Ich jedenfalls begebe mich auf ein appetitlich angerichtetes kleines Gulasch in ein Speiselokal und betrete die Bar. Sehe hoch zum blanken Schädel, dem großen Erschrecker, der nichts tut, als über dem Eingang zum stillen Gastraum seine riesigen geschwungenen Hörner zu zeigen. Am Tresen hocken zwei tattrige Alte. Zu ihren Füßen lagert ein stöhnender Hund, der Ähnlichkeit mit einem mottenzerfressenen Flokati hat. Die Frau raucht hustend eine Zigarette nach der anderen. Systematisch arbeitet sie an der vollständigen Einnebelung des Schankraums. Ihr Gefährte wirft in kurzen Abständen den Kopf ins Genick, kippt sich den wasserhellen Inhalt eines Stamperls in die Gurgel.

Ein anderes Paar sitzt gleich rechts, in einer schmalen Nische zwischen Fenster und Flügeltür. Die junge Frau befolgt das Gebot, ihre Reize zu verhüllen, das Haupthaar zu bedecken und ein Tuch über die Brust zu ziehen. Um der Männer, dieser schwächlichen Geschöpfe willen. Ein Gast zahlt eilig. Nun bin ich allein im großen Speisesaal. Mit meiner Zeitung und den Zweien am Tisch hinter der Tür. Er hört ihr zu und schweigt und spielt nervös mit seinem Glas. Sie betet ihn mit den Augen an. Fährt mit den Zeigefingern unter das Tuch, um eine Haarsträhne nach Vorschrift zu verstecken. All das sehe ich, wenn ich den Blick knapp über den Zeitungsrand hebe. Da wird mein Gulasch aufgetragen. Wie der Geruch die Sinne kitzelt! Ich tauche hinter der Zeitung auf und widme mich dem Genuss von Fleischernem. Delikat! Da beugt sie sich vor. Er sieht sie an. Und verzehrt sie mit Blicken. Auch er beugt sich vor. Über der Mitte des Tisches treffen sich ihre Münder. Einer ertrinkt im anderen. Ich verstecke mich hinter der Sonntagszeitung. Ich stelle mir vor, wie Romeo und Julia entdeckt werden. Dass der tobende Vater oder Onkel oder Bruder oder Neffe in den Raum eindränge, vom Lagerfeuer aufgeschreckt. "Meine Hunde finden dich!" skandierend, wird dieser Sturmtrupp die Stille zerreißen und über die Verliebten hereinbrechen. Während mein Gulasch erkaltet, wird das Paar leidenschaftlicher. Der Tisch halbiert ihre Körper und stört gewaltig. Die Schöne erhebt sich. Sie wirft Romeo einen herausfordernd klingenden Satz hin. Herrgott, warum spreche ich immer noch kein Türkisch? Er zögert. Sie schreitet in ihrem langen Mantel wie eine Königin. Vor der Toilettentür dreht sie den Kopf, durchbohrt ihn mit einem langen Blick. Dann verschwindet sie. Er starrt auf die Tür. Springt auf. Eilt hinterher. Was nun? Herrentoilette? Damentoilette? Was werden sie tun? Ich wage nicht, die Etablissements zu betreten. Ein Anderer passiert meinen Tisch auf dem Weg dorthin. Hin und zurück mit derselben gleichgültigen Miene, die gar nichts erzählt. Die Wirtin kommt, reißt die Tür auf, starrt, lacht hell auf und schließt sie wieder. Eine Viertelstunde vergeht. Noch eine. Dann tritt Julia heraus. Das Gesicht ohne Regung, das Kopftuch stramm und faltenlos. Wieder klappt die Tür. Er kommt herangewankt, ganz aufgelöst, die Glieder aus Gummi, das Gesicht voller Lächeln. Er folgt ihr und versucht, zärtlich ihre Schultern zu umfassen. Wie sie sich ihm entwindet, ohne ein Wort zu sagen und geht! Berührung schafft Kummer, sagt ein japanisches Sprichwort.


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