MISERY TRAIN

Berliner Abende Vor dem Hinterhoftor fegt ein rauer Wind die welken Blätter über den Asphalt. Die leichtesten wirbeln durch die Luft. Darauf reiten die Gnome, ...

Vor dem Hinterhoftor fegt ein rauer Wind die welken Blätter über den Asphalt. Die leichtesten wirbeln durch die Luft. Darauf reiten die Gnome, Kobolde und andere feinstoffliche Geister des Herbstes? Möglich. So steht es jedenfalls in den Büchern. Wer sie liest und die Krähen über den metallfingrigen Antennen langsam dreimal kreisen sieht, kann das schon glauben. Dunkle Wolken ziehen auf. Erste Tropfen fallen. Mein Koffer wiegt, als wären´s lauter Wackersteine. Hoch steigen die schwarzen Vögel. Krächzend schießen sie im Sturzflug haarscharf an den Schornsteinen vorbei.

Auf einer Bank kontrolliere ich den Inhalt meines Koffers. Alles Bücher. Blutrote Umschläge, tätowiert mit schwarzen Spinnenweben. Bleiche Monde scheinen darauf. An diesem Samstag bin ich unterwegs zu einer spiritistischen Reise. So glaube ich jedenfalls. Heute bin ich freiwillige Angestellte des Halloweenzugs.

"Schatten entstiegen dem Zug und huschten an den Käfigen vorbei, in denen die Finsternis mit blicklosen Augen lauerte." Die S-Bahn rattert leise und ich bereite mich vor. Mit Geschichten voll von klappernden Knochenmännern, kopflosen Grafen und Fledermaus-durchflatterten Spukschlössern.

"Der Zug stand mitten auf der gemähten Herbstwiese. Niemand auf der Lokomotive, niemand auf dem Tender, niemand in den Wagen dahinter, alle schwarz im Schein des Mondes. ›Pst!‹ machte Jim. ›Ich spüre sie, wie sie sich dort bewegen.‹"

Ich spüre sie nicht nur. Ich sehe sie. Hutzlige Zwerge, zarte Elfen und strupphaarige Hexenkinder. Sie knäueln sich auf dem Bahnsteig und hüpfen aufgeregt. Spitze schwarze Hüte mit darauf blinkenden Sternen tragen manche. Sie fuchteln mit Zauberstäben und deuten auf ihr gezacktes Mal. Mitten auf der Stirn. Andere tragen silberweißen Elfentüll und klappern mit Schmetterlingsflügeln. Leuchtende Kulleraugen rollen in den weißbemalten Gesichtern. Ihre Lippen blühen rosenrot. Da vorn hat sich eine ganze Geburtstaggesellschaft versammelt. In kürbisfarbenen Satin gehüllt schwenken sie fröhlich krähend wohlgefüllte Proviantkisten und lassen ihre Limoflaschen zischen. Ich stelle ächzend meine Bibliothek ab und fühle mich ein bisschen nackt.

"Muss ich mich schminken, Mama?", höre ich eine verzagte Mädchenstimme fragen. Ich drehe mich um. "Nein", sage ich einfach so in die Luft. "Gott sei Dank", seufzt die Stimme erleichtert. Eine große Aufregung durchflattert den Pulk der kleinen Nachtgestalten. Sie wächst mit jedem einfahrenden Zug. Ich aber wundere mich. Niemand da, der meine Fahrkarte knipsen will? Auch nicht einer, der kontrollieren will, ob meine Lektüren auf dem Index stehen? Gespenstisch! Geschieht hier alles wie von selbst? Da rauscht die S-Bahn in den Bahnhof. "Zum Kinderliteraturzug!" schnarrt eine Beamtenstimme durchs Mikrophon. "Wohin?" rufen ratlos die erwachsenen Begleiter. "Drei Wagen in der Mitte des Zuges", bellt die Stimme ohne Körper. Alle rennen. Und rätseln. Nirgends Siegel oder Zeichen, die mehr verraten. Keine flackernden Kürbislaternen. Nicht mal eine einzige Spinnwebe. Der eine oder andere kleine Mundwinkel verzieht sich erstaunt. Die Türen öffnen sich. Das Zaubervölkchen drängt hinein, Besen verhaken sich, Eltern schubsen. Ein Ruck, der Zug fährt an. Man sieht sich um. Wo sind wir? Erwartungsvolle Stille. Aber kein Zweifel, wir alle stehen dicht an dicht gedrängt in einem stinknormalen S-Bahnwagen. Überall hocken tagesübliche Fahrgäste. Ein schlafender schwarzzottliger Hunderiese schurrt im Traum seinen metallenen Maulkorb über den Boden. "Vielleicht kommt alles erst nächste Station", orakelt hoffnungsvoll ein Zwergenkind und betrachtet furchtsam das Tier. Zwei Stationen lang wartet die Belegschaft zitternd auf das Wunder. Draußen steigt die Dämmerung. Regenschnüre klatschen an die Fensterscheiben. Tränen fließen. "Das soll ein Halloweenzug sein!" schluchzt und schnaubt ein Junge verächtlich. Auf seinem orangefarbenem Sweat-Shirt prangt ein riesiger Kürbis. Über den rechten Ärmel kriecht eine fette schwarze Spinne. Mit ihr wischt er sich den Rotz ab. Eine Idee elektrisiert uns alle. Wir sind im falschen Wagen! Nichts wie raus! Und rein nebenan. Alle stopfen, drücken, pressen sich hinein. Aber welche Enttäuschung, auch hier kocht kein Hexenkessel. Mitten im luftabschnürenden Gedränge steht eine lächerliche Gestalt, vollständig umwickelt von orangefarbenem Krepppapier, wedelt mit einem Kartenspiel und ruft: "Um Mitternacht am Friedhof. Wer geht mit?" Ich steige um. Ich sitze mitten im heulenden Elend und belege die Organisatoren mit einem heftigen Fluch. Und dann? Ich mach´s. Ich enttarne mich. Ich öffne meinen Koffer. Und beginne zu lesen: "Lucy und ihre Mutter sitzen in einem Eisenbahnabteil zweiter Klasse. Wie ganz gewöhnliche Passagiere."

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