MOMENTO. DU BIST STERBLICH

BERLINER ABENDE Kaum habe ich mich mit dem absurden Gedanken vertraut gemacht: Meine Eltern sind ja richtig alte Leute! Grade habe ich angefangen zu begreifen, dass ...

Kaum habe ich mich mit dem absurden Gedanken vertraut gemacht: Meine Eltern sind ja richtig alte Leute! Grade habe ich angefangen zu begreifen, dass ich für immer und ewig ihr Kind sein werde. Eingesperrt in den Bernstein ihrer Erinnerung, eingeschlossen vermutlich, als ich das Haus verließ. Ausgeschlossen, dass ich jemals aufhöre, meine Mutter zu meiner Oma "Mutti" sagen zu hören und zu denken, dies sei ihr Vorname. Ich bin nie erwachsen geworden für sie, habe ich verstanden. Und ich sitze in einem abgedunkelten Zimmer und denke, sie haben recht. Meine Kinn liegt auf eine Plastikstütze gequetscht. Meine Augen sind weit aufgerissen und folgen einem Licht. Die Spezialistin, sieht, dass meine Netzhaut zum Zerreißen gespannt ist. "Alles eine Frage der Zeit", bemerkt sie gleichmütig. Zweitens sei ich demnächst reif für die sogenannte Alterssichtigkeit. Doppelschock. Okay, entspann dich. Schließe für einem Moment die schmerzenden Augen. Atme ruhig weiter. Was, bitteschön, vorsichtiges Formulieren, behutsames Herantasten, hieße denn das? Zur extremen Kurzsichtigkeit meinerseits käme nun Weitsichtigkeit.

Schon schön, als Metapher verstanden. Endlich weiter sehen als bis zur Nasenspitze und das ganz mühelos. Endlich wirklich erwachsen. Die Kurzsichtigkeit aber bleibt? Oh. Und was diese klitzekleinen Mücken angehe, die öfter vor den müden Pupillen fliegen, sie seien keine Vision, sondern Alterserscheinung? Das muss ich erstmal verkraften. Mit der ernsten Empfehlung, ab jetzt sei aber der regelmäßige Glaukomtest dringend angeraten, werde ich, nun tropfenblind, meinem Schicksal überlassen. Die Kasse allerdings zahle da nicht. Mit diesen Aussichten taste ich mich langsam die Stufen hinunter und beschäftige mich prophylaktisch mit der Frage, ob sie mir wohl das weiße Stöckchen finanzieren wird.

Mein alter Freund, der Tinnitus, dröhnt im rechten Ohr wie die hauseigene Verschrottungsmaschine. Altes Eisen macht viel Lärm. Vor mich hin meditierend betrete ich den dämmrigen Park. Ziellos greife ich in meinem Mantra-Sack. "Dat Leben!" kreist es in meinem leeren Kopf, durch meinen Körper, seine knirschenden Gelenke, "dat Leben" pocht es hinter meinen verkratzten Sehwerkzeugen. Ist es schon so dunkel oder sind's die Augen? Vor mir tanzt ein glühender Punkt, nein zwei. Beklemmung lähmt das Herz. Riss grad die Netzhaut? Nicht doch, ein Finsterling samt Kumpel versperren mir den Weg. Entbieten mir ihren schleimigen Gruß. Zisch- und Schnalzlaute folgen. Ich stehe wie angenagelt. Erst friere ich, dann wird mir heiß. Ich lebe noch. Ich seh' sie noch, die Idioten.

Zu Hause eingetroffen, aus gegebenem Anlass bedränge ich Herrn M. "Beschreib mich mal. Sagen wir, für eine Suchanzeige." "Hm." Er legt sein Buch weg und betrachtet mich eingehend. Ich guck zurück: Ein Mann bald in den besten Jahren. "Hm, tja." M. räuspert sich. "Also: Frau mittleren Alters", dann stockt er. Schau an. Eine präzise Beschreibung. Wie man sie von einem intelligenten Mann, erwarten darf. Ein wenig über den Tellerrand geblickt, schon bin ich, was ich nie, aber unter keinen Umständen werden wollte, das traurige Tier, das Frau mittleren Alters genannt wird.

Der Spaß ist vorbei. Ein bisschen an der Oberfläche gepaddelt und es wird ernst. Hinsetzen. Nachdenken. Was ist? Was bleibt? Habe ich gelernt, göttliche Fügungen nüchtern zu betrachten? "Haben mich der Jahre wucht'ge Schläge niedergeschmettert?" Reicht mir die Zeit bis zum Tod? Vierzig war man gern. Berufliche Perspektive. Neue Wohnung. Ein gewisser Luxus. Aber: Wie gewonnen, so zerronnen. Sosein und Dasein. Alles Patchwork. Eitel Stückwerk. Zag geht man zu auf die Mittvierzig. (Die Dezennien lieber vorher noch mal teilen.)

Ein Zipperlein hier, ein anderes da. Sprachforscher Adelung findet durchaus keinen begreiflichen Grund für die Diminutivform. Ich auch nicht. Wieder sitze ich in einem Wartezimmer. Abermals Sand im Getriebe. Knochen klappern .Von Ferne winkt der Grinsemann. "Und alles Fleisch, das ist wie Gras!" Ich denk' nicht dran. "Neues Glück im zweiten Anlauf." Da lacht und glänzt ein buntes Damenmagazin. Zerstreu mich! Alpha-Zustand. Pushen Sie den Faltenkiller! "Carpe diem", sage ich, rücke den Stuhl quietschend vor und begebe mich in Kutscherhaltung. Befremdetes Lächeln rundum accompagniert meine Exerzitien. Ich lasse die Schultern locker nach vorn fallen. Weiterblättern. Augen schließen. "Im Geist wiederhole das Wort: Lamon." Kreiert von Deus ex machina namens Dr. med. Strunz, seines Zeichens Fitnesspapst. Lamon. Lamon Lamon. Solange, bis ich meinen Körper nicht mehr spüre, sodann Somatropin ausschütte, das Anti-Falten-Hormon mich aus dem Schatten ziemlich welker Mädchenblüte katapultiert und mein empfundenes Alter zurück in die Mittdreißiger schnellt.

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