Was ist ein Kopfkissenbuch? Schläft es aufgeschlagen neben meinem Kopf? Macht es mich schlau über Nacht? Blättere ich schläfrig auf der Suche nach Sensationen, die mich schockartig hellwach werden lassen? Oder lese ich darin sanfte Einschlafgeschichten, die mich zur guten Nacht küssen? Ich weiß nicht, welche farbenprächtigen Erzählungen oder feingeschliffenen Bosheiten die japanische Erfinderin dieser literarischen Gattung, die Hofdame Sei Shonagon vor tausend Jahren der kaiserlichen Gesellschaft auf die seidenen Kopfkissen gelegt hat. Die 1960 in Tokyo geborene und seit 1982 in Hamburg lebende Schriftstellerin Yoko Tawada jedenfalls hat hellwach eines der im Mittelalter populärsten Werke der Antike, die Metamorphosen des vom Hof verbannten Dichters Ovid gelesen. 22 Frauen, darunter Leda, Echo, Ariadne, hat sie ins gegenwärtige Hamburg transferiert und ihnen zugesehen, wie sie ihre Verwandlungen erleiden oder kunstvoll inszenieren.
1993 erhielt die Autorin für ihren Verwandlungsroman Hundebräutigam den Akutagawa-Sho, den wichtigsten japanischen Literaturpreis. Das Prinzip der Verwandlung ist für sie das wichtigste literarische Motiv. Sie muss nicht selbst eine Verwandlungskünstlerin sein. Sie muss nur genau hinsehen. Der Alltag im fremden Sprach- und Kulturraum zwingt sie, ihre Sprach- und Denkgewohnheiten zu überprüfen: "Wenn wir gewohnt sind, alles in der normalen japanischen Syntax zu denken, dann sehen wir und beobachten auch alles in dieser Syntax. Die Welt existiert aber eigentlich nicht in der Syntax, so dass diese genormte Sichtweise also Verwirrungen verursacht. Weil man aber so sehr daran gewöhnt und angepaßt ist, kann man nur die Dinge, die zu dieser gezwungenen Norm passen, erkennen und verliert so seine Sehschärfe," erläutert sie im Gespräch mit dem Literaturkritiker Yasuhisa Yoshikawa.
Auf dem Weg von der japanischen zur deutschen Sprache wird die mit Klischees und Konventionen zugerümpelte Bedeutungsspur freigeräumt. Yoko Tawada lässt sich befremden, sichtet neu, fällt mit Glück in das schwarze Gewebe zwischen den Sprachen. Das unkonventionelle Sehen lässt die Dinge sich unter den Augen verändern. Wie liest die Schriftstellerin mit ihrer zweifachen Kulturerfahrung die Mythen, von denen gesagt wird, dass sie Einsicht in den Grund aller Erscheinungen des Daseins vermitteln? Der Dichter Ovid erzählt kunstvoll verschachtelte Geschichten mythischer Verwandlungen, die Menschen mit Götternamen, in göttlichen Kostümen erleiden. Tawada lässt Ovids Pseudogöttinnen im heutigen Hamburg ihre abweichenden, oft seltsam anmutenden Alltagswege gehen. Raffiniert verschlungen und verwoben greifen die Sätze, die Geschichten, die Schicksale ineinander wie die Glieder einer Kette.
"Von einem Ort zum anderen transportiert Ocyroe Sätze, leicht verfälscht und umgewandelt". Diese rothaarige, prophetische Kentaurentochter scheint das Porträt der Schriftstellerin bei der Arbeit als Sprachkünstlerin zu sein. Sie weiß nicht, wohin die Adressatin verschwunden ist. Postlagernd in Hades. Welche Leser, welche Leserinnen können sich die Briefe abholen? Die Genuss- und Rauschleser, die wie im Halbschlaf tagträumerisch durch eine Porträtsammlung flanieren und mit schweren Lidern verfolgen, wie die Konturen sich vom Bild lösen? Oder jene, die die Frauen verfolgen und ihre Ausbruchsversuche genießen? Vielleicht aber bevorzugt die Autorin die gebildete Hofgesellschaft, die auf die in die Gegenwart montierten Ovidschen Wendungen lauert und sich an der Künstlichkeit im besten Sinne zu delektieren weiß?
Yoko Tawada beginnt ihre Metamorphosen mit der in die Badewanne steigenden Leda. Ihre Flügel lägen kraftlos an den Wannenrändern, mutmaßt die Ich-Erzählerin. Fast jeder glaubt die Geschichte von Leda zu kennen. Aber es war doch so: Nemesis floh vor den lüsternen Nachstellungen des Zeus. Auf dem Land nahm sie in ihrer Not die Gestalt einer Gans an. Zeus wurde zum Schwan. Pech für Leda. Er vereinigte sich mit ihr. Pech für die Menschen. Denn Nemesis legte das Ei, aus dem die schöne Helena schlüpfte. Und es war hyazinthenblau, wie wir von Sappho wissen. Aber die Hamburger Leda ist unfruchtbar. Sie ist eine Sozialhilfeempfängerin, die mit vielen andern Frauen gegen den bösen leiblichen Vater auf den guten Vater Staat hofft. Sie kann nicht schlafen. Sie kann nicht essen. Ihre Kreativität ist vertrocknet. Ihre Begabungen hat sie in fantastische Neurosen umgemünzt. Jemand, der Ich sagt, hat dieser flügellahmen Leda Gesellschaft geleistet. Und erfindet der abgestürzten Göttin, ist sie nicht trotzdem unsterblich, eine neue Geschichte.
Yoko Tawadas Frauen sind auch Antiquitätenhändlerinnen mit animistischen Neigungen, Studentinnen, die während ihrer Diplomarbeiten langsam verrückt werden oder nur ihre Wahrnehmungsweise verändern. Wie bei Ovid verwandeln sie sich durch Liebe und Sehnsucht, Arbeit und die vergehende Zeit. Glück ist wie Rausch ein Aggregatzustand, den sie selbst erzeugen können. Die Schriftstellerin schreibt. Die Leserin verschlingt "erregt und mit brennender Haut" die Buchseiten. Und beide treiben im glückhaften Rausch der Imagination. Zuvor sind Erinnerungen, Begriffe und Wahrnehmungen in der kalten Luft des Ungewohnten zerfallen. "Die eckigen, schmalen Rücken der Bücher versprechen ihr, und nur ihr, eine endlose Ekstase, die schwarz glänzenden Buchstaben werden sie mit Gewalt in sich hineinziehen und ihr alles, was ihre Person ausmacht, rauben, sie werden sie entblößen und häuten, ihren Wortschatz vernichten, um sie von den menschlichen Wörtern zu befreien." Wie beim antiken Vorbild verschränken sich die Geschichten kunstvoll ineinander. Doch anders lehren sie viel über Frauen, beschreiben selbstironisch ihren Umgang miteinander, sinnlich, hochkompliziert, oft symbolhaft aufgeladen. Eine scharfsichtige Erzählerin hat mit ihren poetischen Entwürfen weiblicher Biographien die antiken Vorbilder im Göttinnengewand entmythifiziert. Und dabei keineswegs ihrer Magie beraubt.
Yoko Tawada: Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen. Konkursbuch-Verlag, Tübingen 2000, 180 S., 24, 80 DM
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.