Ragout Fin

BERLINER ABENDE Die reizende Vergangenheit ist schon lange für immer dahin. Die drei Wünsche, die wir in die Wiege gelegt bekamen, nahm uns der große Feuilletonist ...

Die reizende Vergangenheit ist schon lange für immer dahin. Die drei Wünsche, die wir in die Wiege gelegt bekamen, nahm uns der große Feuilletonist Victor Auburtin. Eine halbe Stunde saß er in der festgefahrenen Linie 172 vor dem Potsdamer Platz und sprach: "Erstens sollen mir sämtliche Bewohner der Erde den Arsch lecken, einer nach dem andern. Zweitens: Ich wünsche, dass sie noch einmal lecken. Drittens: Noch einmal, wenn ich bitten darf." Damit wäre für meinen Teil eigentlich alles gesagt. Aber ich weiß, so sollten wir nicht voneinander scheiden, das Jahrhundert, das Jahrtausend und ich. Ich löffle ein wenig von der Millenniumsmarmelade, Erdbeer mit Cognac, auf's Brot der frühen Jahre, beiße ab und kaue. Wie das war? Am allerersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts in der deutschen Hauptstadt?

Nebel, Nebel, so weit das Auge des glücklichen Chronisten reichte. In Frack, Claque und Lack hatte Herr Kerr amüsiert den Berliner Zylinderjägern auf der Friedrichstraße zugesehen. Haut den Zylinder, wo ihr ihn trefft! Der deutsche Kaiser sprach zum Heer. Es brauste sein Ruf wie Donnerhall, und die Hauptstädter hauten auf den Hut, ließen beim Anstoßen den Punsch in den Gläsern schwappen. Sie riefen: Lebe! Lebe! Lebe! Und ahnten wieder mal von nüscht. Dann wurde Chronos das Gemächt abgesichelt, und es ward der erste Weltkrieg. Revolution, Dada und Foxtrott sind vorprogrammiert. Erika Mann fährt mit dem Automobil den Hohenzollerndamm entlang und fast einen Mann tot, der in die Sterne starrt. Er faucht sie an: "Weibervolk, verdammtes, schert euch in die Küche."

Damit waren die goldenen Zwanziger auch schon vorbei. Gold gaben sie für Eisen.

"Wir trinken einen dünnen Punsch

Silvester einundzwanzig.

Denn unerfüllt ist jeder Wunsch,

Die Stimmung flau und ranzig."

Peu á peu aber stieg die Stimmung wieder, und 1933 kam das große Ragnarök. Der Weltenbaum zitterte und krachte, die Sonne verfinsterte sich, die moralischen Bande verfielen, und der große Fimbulwinter brach an. Der glückliche Chronist gehörte auf einmal zum Weltjudentum. Er wurde genötigt, germanisches Weltende und Götterdämmerung von London aus zu betrachten. Seiner Tochter kam dabei ein rosa Kaninchen abhanden. Silvester 1945 meldet eine Berliner Chronik müde: "Die Kempinski-Ecke am Kurfürstendamm zeigt noch kein Lebenszeichen. In vielen Geschäften liegen unnütze Dinge aus. Vor den wiedereröffneten Kinos drängen sich die Menschen. Die Frauen in den Kaffeehäusern tragen vielfach Herrenanzüge oder Hosen und rauchen erheblich." Man goss wieder Blei. Man wurde wieder wer. Man reiste durch Zonen. Dann kam ich und der Sputnik. Und so sah ich die Welt:

Sechziger Jahre: Singe im Schulchor der Agnes-Miegel-Realschule. "Herr, schicke was du willt, ein Liebes oder Leides." Auf willt reimt sich quillt, und ich denke mir mein Teil. Mein Motto: Baum pflanzen. Abwarten. Teetrinken. Setze am Gartenzaun eine kleine Weide.

Siebziger Jahre: Mein Vater fällt die Weide. Ich trauere. Fahre ins gelobte Land und pflanze einen Baum. Diesmal ist es eine Zypresse. Ich knipse sie und bekomme eine Urkunde. Wieder zu Hause erledige ich die Reifeprüfung mit Ach und Krach. Endlich schulfrei! Ich arbeite im örtlichen Irrenhaus und lerne ein wiederkäuendes Mädchen kennen. Der nette Junge mit dem Hydrozephalus heißt Michael. Fasse den Entschluß, nach Asissi zu pilgern. Dort helfe ich einem schöpfungsgeilen Franziskaner, eine ausgewachsene Pinie vor seine Kapelle zu setzen.

Achtziger Jahre: Ich ziehe nach Berlin. West. Besuche in neun Jahren einmal Berlin Ost. Jerusalem, die Ewige, expandiert. Meine kleine Friedenszypresse muss einer ultraorthodoxen Siedlung weichen. Die Mauer wird gestürmt. Wir schaun auch mal rüber.

Die Neunziger: Jetzt leben wir alle in einer utopiefreien Zone. An meinem Vierzigsten fällt in Asissi der heilige Rufino vom Himmel der Basilika. Auch meine Pinie ist nicht erdbebenfest gewesen. 1999 : Totale Sonnenfinsternis. Das tausendjährige Reich wird zu den Akten gelegt. Auch die Zwangsarbeiter werden endlich ausbezahlt. Was wird uns am ersten Tag des einundzwanzigsten Jahrhunderts erwarten? Ein per deutschem Kaiserschnitt aus dem fruchtbaren Schoß gezogenes Millenniumsbaby? Setzen wir uns Millenniumsbrillen, Hütchen und Pappnasen auf.

Sie kennen den Silvesterbrauch des sogenannten Däumelns oder auch Stechorakel? Früher griff man in die Bibelseiten. Heute, in der utopiefreien Zone, wählen wir blind aus dem Regal. Was ist's? Ah ja, "Jugend ohne Gott" von Horvath. Jetzt noch mit geschlossenen Augen, absichtslos blättern, stechen, und hier ist das Orakel: "Woraus die Dinge entstanden, darein müssen sie wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld ihres Daseins nach der Ordnung der Zeit." Wir sollten wieder mehr auf die alten Griechen hören.

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