Sag mir wo du stehst

BERLINER ABENDE »I'm sentimental, if you know, what I mean; ...

»I'm sentimental, if you know, what I mean;

I love the country but I can't stand the scene.

And I'm neither left or right.

I'm just staying home tonight,

getting lost in that hopeless little screen.«

Lange Zeit ahnte ich nichts von der Existenz eines zweiten Deutschlands. Unter einem Land mit drei Buchstaben konnte ich mir gar nichts vorstellen. Ich schwöre. Meine Oma allerdings stand mit einer mythischen Gemarkung in Verbindung namens Die Zone. Mir ferner als das untergegangene Troja. Sie verschickte Pakete, Briefe, große Päckchen, kleine Päckchen. Ganze Tonnen der guten Reichelt-Nussschokolade karrte sie in ihrem Einkaufswägelchen heran. Unter mancherlei Seufzen und Segenssprüchen und meinen enttäuschten Blicken verschwanden die süßen Stapel in leeren Schuhkartons. Wer hat sie gegessen? Wo sind sie geblieben? Ich wusste es nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Die schokoladesüchtigen Bewohner des ominösen Planeten sandten Gegengeschenke. Angegraute Bilderbücher, in denen geometrische Männchen die Hauptrolle spielten. Ein holzgeschnitztes Engelorchester, dessen geflügelter Pianist mein ganzes Entzücken war.

Ich lernte Onkel Arthur kennen. Er war von jenem fernen verlorenen Stern geflohen. Das war ja spannend. Noch im Blaumann, die Aktentasche mit den Frühstücksbroten unterm Arm. »Der hat sein Maul nicht halten können«, raunte die Familienpythia. Warum hätte er das tun sollen?

An einem goldenen Herbsttag reiste ich mit leichtem Gepäck gen Berlin. Und, ehrlich, mir war entgangen, dass mein Ziel mitten in der Deutschen Demokratischen Republik lag. Ein Ruck und noch einer. Der Zug bremste langsam quietschend. Mir wurde mulmig. Knarzende Uniformierte bestiegen den Zug. Sie traten zackig auf, trugen lächerliche Bauchläden vor der Brust und knallten mit Aplomb den Stempel in die Pässe. Die Zone. Der Ostmulm. Immer würde ich mich auf dem Transit wie ein Stalker fühlen.

Dann war ich drin. Die halbe Stadt war groß genug für mich. Die Mauer nicht vorhanden. Nur mit Besuchern wurde sie Zeichen lesend abgeschritten. Eines schrecklich kalten Wintermorgens durchschritt ich die Grenze. Ein großer Fan meiner schönen Augen spendierte mir den Eintritt für die Hauptstadt. Die Düsternis des Bahnhofs Friedrichstraße werde ich nicht vergessen. Wir durchliefen einen gelb gekachelten schräg ansteigenden Tunnel. Beklemmung saß mir in der Brust. In einer Halle saßen ältere Leute auf prall gefüllten Taschen. Die Grenzer trugen pelzige Mützen. Sie verzogen nicht den Hauch einer Miene. Einzeln betraten wir schrankähnliche Kabinen. Mein soziales Lächeln zerschellte samt Grußwort. Ewig betrachtete der Uniformierte mein real existierendes Ohr und verglich es mit dem Foto im Pass.

Was ist mir geblieben von diesem frostigen Tag? Eine Straßenbahnfahrt ins Ungewisse. Die gemütlich überheizte Amtsstube der Friedhofsverwaltung in Weißensee. Der altertümliche Registraturschrank, aus dem überraschend die von uns gesuchte Information gezogen wurde. Das unvorstellbar grobe Klopapier auf dem vereisten Häuschen. Der weite, weißverschneite Weg zum Grab unter hohen, frierenden Bäumen. Wir liefen die berühmten Linden entlang. Durchschritten ein vereistes Archiv, wie mir schien ein Kühlhaus, das uns verrottende Schönheit und architektonische Kargheit zur Besichtigung anempfahl. Ich konsumierte im Centrum. Drei hölzerne Kochlöffel, sage und schreibe, ein Bündel chinesischer Bleistifte. Bis heute unangespitzt. Ich wunderte mich nicht über die leeren Regale. Ich war mit mir und dem Ordnen meiner inneren Verzwicktheiten beschäftigt. Meine ganz persönliche Eastside Story ist eine Luftnummer, eine Nullnummer geblieben. Aber Jericho fiel. Fürderhin beschwor ich fantasieresistente Lehrerreste, indem ich, laut die Internationale pfeifend, die gähnenden Flure der alten POS durchschritt. »Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger; alles zu werden, strömt zuhauf!« Dies Lied, für mich ist's unkaputtbar, und als ich las: »Unterführung Friedrichstraße. Performance. Die Internationale«, begab ich mich, eine echte Freundin symbolischen Treibens, an den angesagten Schauplatz. Ich erkannte ihn sofort. Schräg ansteigend. Düsternis verbreitend. Gähnend leer und still. Ich überlegte verwundert, stieg aus dem Orkus und stand plötzlich vor einem abgeseilten Geviert. Einer schwarzumspannten kleinen Bühne, auf der zwei riesenhafte rot und golden dekorierte Masken durch die leeren Augenhöhlen lachten. Ich wartete. Lebhaftes Gedränge. Menschen eilten drumherum. Manche stutzten, schauten, liefen weiter. Eine armlose, ältere Frau stand länger davor. Ich dachte: »Die Arme!«, kicherte und schämte mich. Nichts Erhebendes sonst begab sich. Aber null ist ja nicht nichts, wie mein alter Mathematiklehrer zu sagen pflegte.

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