Schwitzbad im Genpool

Kehrseite III Berliner Abende

Warum treffe ich mit einem Mann Verabredungen, der mich am Telefon gern Dr. Rha-barbera Hitlerova zu nennen pflegt? Auch seine bizarren Postsendungen an mich mit diesem schmucken Titel adressiert? Es muss einfach am Genpool liegen. Wir teilen uns einen. Geschwisterblut fließt durch unsere Adern. Ein Strom von gemeinsamen Geschichten durchfließt unsere Lebenserzählung, mit langen und kurzen Kapiteln, hellen und dunklen, grellen und zornigen. Dann teilt sich der Strom, abrupt und ganz allmählich zugleich. Blut ist dicker als Wasser. Heißt es nicht so im Buch der zu vernachlässigenden Sprichwörter?

Manche Orte hätte ich ohne ihn niemals betreten. Nicht mit Zwölf. Mein Bruder hatte eine Vorliebe für die proletarische Halbwelt. Weit weg von zu Hause. Flippern in der "Windstärke Null", einer verräucherten Vorortkneipe, gehörte zu seinen Sextanerver-gnügungen. Hierher nahm er mich mit. Ich wurde angestaunt. Das Mädchen mit dem Geigenkasten. Väterchen Franz mit dem struppigen Bart, der eine wild rot und blau gemusterte Nase umwucherte, saß am Tresen vorm obligaten Gedeck. Er besah mich von oben bis unten. Ach wat, dat is deine Schwester? Er legte mir einen vom Alltag streng imprägnierten Ärmel um die widerstrebenden Schultern. Sein alkoholisierter Atem umdunstete mich, und ich fühlte mich sehr fremd.

Neulich am Telefon: Spreche ich mit Frau Doktor Hitlerova? Ich kaufe mir schnell noch eine Illustrierte. Dann steig ich in den Zug nach Berlin. Aha. Wo wirst du übernachten? Auf der Straße. Ah ja. Du hast doch zwei Stunden Zeit für mich. Hmm. Geschwisterblut kocht. Ich sage knapp: Jo.

Ohne nach rechts und links zu schauen, durchpflüge ich den Bürgersteigverkehr Richtung Bateau Ivre. T. kommt mir entgegen, die Stufen vom Trunkenen Schiff herunter, wo gerade eine andere bekannte Nachtgestalt taumelnd die Segel setzt. Die Sonne strahlt hell an diesem Novembermittag. Eine milde Luft treibt wieder alle hinaus. Da sitzen sie, an die Hauswand gelehnt, blinzeln in die frühwinterliche Sonne und schlürfen ihren Milchkaffee, das erste Bier, schon ein Glas Wein. Das ist die Kunst, den November zu überstehen. Noch einmal volles Maß, Lichtsaufen, bevor das große Frieren dräut.

T. drängt es zum Discounter. Wir könnten uns doch eine Bank suchen. Irgendwo draußen. Mit ein paar Flaschen Bier. Das eine oder andere Stärkungsmittel dazu. So wäre es ihm am liebsten. T. hat aufgehört, sich die Haare zu blondieren. Sie stehen ihm grau und weiß verstrubbelt vom Kopf ab. Seine Brille hat er irgendwann zerdrückt. Was er sehe, reiche ihm völlig aus, meint er ironisch lächelnd. Bartstoppeln stechen mich bei der Begrüßung. Die edle Lederjacke vom letzten Mal hat er irgendwo vergessen oder verloren. Keine Ahnung. Eine abgewetzte Sanitäteruniformjacke umschlottert seinen abgemagerten Oberkörper. Wenn T. spricht, wenn er lacht, sehe ich in den fast zahnlosen Mund eines sehr alten armen Mannes. Wo er die Brücke links oben verloren hat, weiß er nicht mehr. Die für unten rechts, ach nee, kein Geld, liegt noch beim Zahnarzt. Plötzlich bückt er sich. "Guck dir das an", sagt T, "sowas schmeißen die weg!" Er hält mir zwischen Daumen und Zeigefinger eine halb gerauchte Lucky Strike entgegen.

Er war klug. Er hatte viele Talente. Er hatte Träume. Er war der Gratläufer, der Borderliner. Er durchwanderte die Drehtüren der Psychiatrien. Er wollte tot sein. Er stand wieder auf und war lebendig.

Auf dem Weg zum Café im Görlitzer Park gibt er die neueste Nummernrevue vom Väterchen Franz: "I bin ganz schön. Ganz schön parterre." Mit Wurstelpraterzungenschlag. Theatralisch stürzt er sich auf jede Kippe. Aber es ist nicht die Wahrheit. Es ist nur ein billiger Trick, Seelen zu erpressen. Geld zu kassieren. T. inszeniert und kokettiert. Er ist Väterchen Franz. Er übernachtet am Rhein. Hast du keine Angst. T. sieht mich an. Du hast doch ein Zimmer, sage ich. Das Rattenloch! ruft er laut über den Lausitzer Platz. Bisse verrückt. Wenn ich auf ´ner Pappe schlafe, dann muss sie schon von Veuve Cliquot sein.

Überall scheint die Sonne für meinen Bruder zu hell. Ich wandere neben einem ungewaschen riechenden Höhlenmolch, der seinen zitternden Arm fest im Griff haben muss. Eine Spende später stehen wir bei Plus mit dem billigsten Bier, drei Fläschen Boonekamp und Zigaretten. "Seien Sie nicht so gierig", sagt die Kassiererin zu T., der ihr ungeduldig das Päckchen aus der Hand reißt. Auf der Straße küsst er mich überfallartig auf die Wange. Vielen Dank, dass du meine Drogen finanziert hast. Wir spazieren am Ufer entlang zum Urbanhafen. Warum machst du das? Das kann ich dir erklären. Warum lebst du so? Das kann ich dir erklären. T gestikuliert wild. Passanten beobachten uns vorsichtig amüsiert, dieses seltsame Paar auf der Parkbank.


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