Im Landeanflug gibt es nur zwei Dinge zu tun: Einbiegen in die Siedlung, denken: »Wahnsinn, ist das alles klein geworden hier!« Und gleichzeitig den heftigen Fluchtimpuls unter Schweißausbrüchen wegarbeiten. Nichts lässt das Schwitzwasser so fließen wie ein Besuch bei Mutter und Vater auf dem heimatlichen Trabanten. Festgemauert in der Erden stehen immer noch die kleinen Vorkriegshäuser, mit den Gärten hinten oder vorne oder hinten und vorn.
Ein Fest ist angesagt. Mutters Achtzigster. Ihre Zwillingsschwester, ergo auch ihr Achzigster, liegt derweil mit gebrochener Nase und allerlei andern Gebresten im Hospital. »Wer war´s denn?« frage ich dumm. »Ihr Lieblingsneffe«, zischelt mir jemand ins Ohr. Tantchen presst die Lippen aufeinander und deutet mit dem wackeligen doch wohlmanikürten Zeigefinger auf ein zerknittertes Stück Papier. Was draufsteht, lese ich vor: »Ich will sterben.« Der griechische Chor, eben noch ein Grüppchen heiterer Gratulantendarsteller, verdreht die Augen und murrt. Das alles geschieht vollkommen synchron und unisono. Und jetzt nur raus aus dem Haus mit der altersgerechten Innenausstattung und den so freundlich gelb gestrichenen Fluren.
Nachdem wir zur Erholung ein paar kleine und größere Umwege gefahren sind, werden die Kreise um das Elternhaus in homöopathischen Dosen eng und enger gezogen. Als wir endlich doch in die Straße der Völkerballexzesse, Gummitwist- und Dötzmeisterschaften biegen, ziehe ich den Kopf ein wie eine uralte Schildkröte und sage schaudernd: »Wir haben uns verfahren. Seht doch, jetzt sind wir in Wichtelhausen.« Mein Herz klopft im Hals. Ganz langsam steigen wir drei abgetretene steinerne Stufen hoch. Mein Bruder schellt. Im Nu sind Scherz, Satire, Ironie obsolet. Und diese drei dazu: Glaube, Liebe, Hoffnung. Ein spezieller Geruch umfängt uns. Wieder ducke ich unwillkürlich den Kopf zwischen die hochgezogenen Schultern. Aber ich stoße nicht an die Decke. Denn ich bin Zwergin von Geburt. Erinnere dich doch, mein liebes Kind. Komm nur herein und sieh deiner Verzwergung zu! So west und wirkt nun einmal das Prinzip Heimat.
Durch den Flur treten wir über die Stelle mit den zerschmetterten roten Fliesen, die alte Brandbombenwunde, zur Küche. Vergessen? Hier ist alles akkurat so wie es immer war und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Grün gestrichene Küchenmöbel aus den Fünfzigern. Darauf von Zwergenhand sorgsam geklebte Prilblumen aus den Siebzigern. Das graue Bakelittelefon steht auf einem handgeschreinerten Bord, direkt neben dem Küchentisch, schön platziert vor aller Ohren. Habe so, ach, ein halbes Teenagerleben gequetscht in einer nach Qualm und ganz leicht nach Pisse stinkenden Telefonzelle an der Hauptpost verbracht.
Am Herd steht die Mutter. Von Alterslast leicht eingeknickt, sie hat es in den Knien. Erfreut begrüßt sie mich, deutet auf meine rechte Schläfe und fragt sofort: »Was hast du denn da?« Ich hab´s gewusst. Sie wird es sagen. Und sie sagt es. Ich rufe: »Die Pest, Mama, die Pest!« und schaue mich um. Im Esszimmer, was für ein Wort, ist die Kaffeetafel gedeckt. Restbestände des guten Keramikservices präsidieren neben den altertümlichen Sammeltassen, ererbt von Großmüttern und Großtanten. Auch der eine oder andere unpassende Becher ziert den Tisch. Ist das die Botschaft: Warum Neues, warum Schönes? Wir sind ja doch bald tot?
Bringen wir es hinter uns, hinter uns, hinter uns, klopft das Herz. Ich gehe zur Gartentür hinaus. Stehe auf der Treppe und gedenke ein bisschen: Es war einmal, hier saß ich mal. Des Samstags wienerte ich Schuhe für den Kirchgang. Paar für Paar. Dreckbürste, Wichsbürste, Blankbürste, neben mir auf den sonnenwarmen Holzstufen. Orgelmusik brauste über den Kopf. Kuchenduft umschmeichelte die Nase. Oh, Fallada, die du da hangest. Ich sage dir: Es war nicht alles schlecht. Damals. Und jetzt? Was muss getan werden? Es muss der Herr Vater begrüßt werden. Der schwer beschäftigt tut mit seiner Enkelin da hinten an der Schaukel im Garten. Guten Tag, Herr Vater. Herr Vater hat sich zwei Drittel seines Gesichts gepflegt zuwachsen lassen. Ein weißer Bart, Insignium des Oberwichtels, ohne Frage. Er schaut kühl. Nach einer Lidliftung rollen seine Augen schwarz und staunenswert kugelrund. Er steckt die Hände in die Hosentaschen. Er macht den Mund auf, in seiner Stimme schwingt leicht knirschende Verunsicherung. Wird er sagen: »Wie schön, dass du nach zehn Jahren dich auch mal blicken lässt«? Den leicht beleidigten Tonfall könnte ich mir dazu denken, gleichfalls die ausgebreiteten Arme. Indes erteilt offenbar sein innerer Regisseur andere Anweisungen. Weiterhin Hände in den Taschen und kühl schauen. Schaut er eben weiter kühl und fragt: »Wie kommst du dazu, meinen Wochenendkoffer mitzunehmen, ohne mich zu fragen?«
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