Es waren einmal drei, die Freundinnen waren. Die lebten in einem Land, in weiter Ferne ganz nah. Und wie es so geht, wenn die Schulzeit zu Ende ist und der Sommer anfängt und die Zukunft vor einem liegt, da werden Pläne geschmiedet. Ganz egal, ob in Paris, im Ruhrpott oder in der Deutschen Demokratischen Republik: Wer jung ist, will weg. Raus aus dem Haus, weg vom Abgelatschten, muss den Aufbruch wagen in die Fremde.
Die 1966 in Magdeburg geborene Anne Hahn erzählt von Mo, Katrin und Nina, die zwischen grauen Häusern und blassen Menschen über ihren Träumen brüten. Nina, die aufbrechen will, aber an allen Ecken anstößt. Die zarte Mo, die das Reisen nach Innen der Wirklichkeit vorzieht. Und von der zielstrebigen Katrin, die "die funktionalen Gebäudefluchten der Karl-Marx-Straße mag" und in den mittelalterlichen Röhrengängen unter ihrer Heimatstadt herumwandert, während über ihr die Altstadt Magdeburgs zerbröselt.
Anne Hahn gehört wie die gleichfalls in Magdeburg geborene Annett Gröschner der Ostberliner Szene an, die, in der Kneipe Torpedokäfer ansässig, die Zeitschriften Gegner und Sklavenmarkt herausbrachte. Gröschner hatte bereits 2000 ihr Erinnerungsbuch veröffentlicht. Der formidable Roman Moskauer Eis holte die Ferne sprachgewitzt heran und mied das allzu Gegenwärtige. Anne Hahn hat nun den zweiten Magdeburg-Roman geschrieben.
Dreizehn Sommer. Das klingt ein bisschen nach Teenagerroman mit rosarotem Schutzumschlag. Doch es ist die Beschreibung einer Jugend in den Zeiten der Agonie. Wir schreiben das Jahr 1986. Der Reaktor in Tschernobyl ist explodiert. Während im Westen Ernten vernichtet, Gummistiefel abgespült und Listen von zu vermeidenden Lebensmitteln veröffentlich werden, herrscht im Osten bleiernes Schweigen. Es sind die letzten Ferien, die Nina, Katrin und Mo gemeinsam auf dem Zeltplatz verbringen. Schön sein, begehrt sein, trinkfest sein, das sind in diesem Augenblick die Parameter des Wünschens und Träumens. Katrin war zur Zeit des Reaktorunfalls in Kiew. Sie wird von einer vagen Angst bedrückt, aber kann ihren Freundinnen nichts sagen. Schon in der Schulzeit hat sie sich zu diesem Architekturstudium entschlossen und verpflichtet. Jetzt absolviert sie das rigide Ausbildungsprogramm in Kiew, wo alle Straßen zu breit sind und die Menschen sich auf den riesigen Plätzen verlieren. Sie sehnt sich nach Magdeburg. Die größte Industriestadt der DDR ist für sie zur winkeligen Kleinstadt geschrumpft. In den nächsten Jahren wird sie, die Schönste von ihnen, findet Mo, die Hundertfünzigprozentige sein, die Parteiparolen aufsagt und an sie glaubt. Bewältigt sie so ihre Angst?
Der Roman beginnt mit dem Ende des letzten gemeinsamen Feriensommers, in dem sich schon der Anfang vom Ende der Freundschaft ankündigt. Nina kehrt zurück in die brütend heiße, nach Asphalt, Gasen und Gummi riechende Stadt. In ihre heile Familie. Der Vater ist Ingenieur, die Mutter arbeitet in der Neurologischen Klinik. Man liest. Natürlich Aitmatow, die Russen. Goethe, Thomas Mann. Aber auch jüngere Amerikaner, wie Baldwin zum Beispiel. Bruder Sascha kommt vom Tennisplatz. Das kann für Bewohner der ehemaligen Bundesrepublik nach bürgerlicher Mittelschicht aussehen. Eine Brutstätte für jugendliches Protestpotential. Die Baldwin-Lektüre ist für Nina natürlich verboten. Wegen der Sexszenen? Sofort muss sie wieder raus, um sich an der Elbe mit Mo zu treffen. So ist es überall. Auch im anderen Teil Deutschlands gehörten solche Auseinandersetzungen zum Alltag. Aber die Grenzen sind in der DDR enger. Die Sanktionen schärfer. Die Wirklichkeit ist brüchig und verlogener. Ohne Hoffnung darauf, dass man es selbst anders machen kann.
Nina ist die Heldin des Romans. Die Freundinnen sind blass konturierte Schattenrisse, an deren Seite sie umso heller und wärmer strahlt. Ihr Leben, ihre Geschichte ist der rote Faden, der sich durch die Beschreibung der letzten Jahre der DDR zieht. Sie bricht auf, fällt, stürzt ab. Für sie geht nichts mehr den sozialistischen Gang. Sie schlägt sich zu denen, die mit der Band Fehlfarben singen: "Was ich haben will, das krieg ich nicht, und was ich haben kann, das gefällt mir nicht." Also Sand im Getriebe sein, durch Stillstehn und Nichtstun.
Nina zieht es an die Ränder. Sie lebt mit den Punks, während ihre alten Freundinnen sich anpassen. Katrin mehr: Sie plant Plattenbausiedlungen, Parteischulen und Kindergärten, engagiert sich in der SED. Mo weniger: Aber ihre Haut ist zu dünn. Sie ist eine Gratwanderin. Überraschende Zusammentreffen der drei markieren den Bruch und enden im Desaster.
Ziellos, sich einig allein in der Verweigerung gegenüber dem System, so sind Ninas neue Freunde. Einig auch in der Besinnungslosigkeit des unaufhörlichen Saufens. Was füllt die Leere, das Loch des Daseins, wenn nicht die Liebe? Aber der Eine, der Wichtige geht. Sie sieht ihn verschwinden hinterm Tränenpalast, hin zu den strahlend schönen Neubauten, der Imagination ihrer Sehnsucht. Fortan ist die Liebe unauflöslich verknüpft mit der Aufbruchslust in die Ferne, über die Grenze. Die Stasi wittert Morgenluft, doch ihre Anwerbeversuche bleiben erfolglos.
Die Freundschaft ist zuende, die DDR stirbt auch, Mo und Nina scheitern an der Grenze und fahren ein. Dann fällt die Mauer. Der Mantel der Geschichte wird kurz gelüftet. Blühende Landschaften werden proklamiert. Dass Mo in der Psychiatrie sitzt, die angepasste Katrin kapitalismuskompatibel nun in Magdeburg gläserne Bürokästen entwirft und Nina in der Ferne schweift, kann die Leserin nicht sehr überraschen.
Dreizehn Sommer ist ein Buch der Selbstvergewisserung, wie so viele der Erinnerungsbücher, die in den letzten Jahren geschrieben worden sind. Haben wir nicht endlich genug davon? Brauchen wir noch eins? Aber ist nicht auch jede Geschichte eine besondere, die dem Chor eine eigene, eine neue Nuance hinzufügt. "Wie gut, daß es einzelnes gibt. Ganz absurde Details zum Polieren. Die man einmal vermissen würde", hat der junge Dresdner Lyriker Durs Grünbein einst geschrieben, bevor er zum deutschen Staatsdichter wurde. Bücher sind Erinnerungsspeicher. Es kommt aber auch darauf an, wann sie gefüllt werden. Je ferner die Ereignisse, desto unbeschwerter die Gefühle, umso leichter strömt der Erzählfluss. Wie locker und dicht, ohne unnötigen Ballast mit sich führend, läuft die Geschichte im ersten Teil. Dann kommen die Neunziger und alles klingt so glatt und abgegriffen. Das Erzählte wie die Sprache. Da sperrt sich noch nichts. Plötzlich fehlt die Differenz. Was wird? Die Heldin hat immer noch kein Ziel vor Augen. Schon wieder ein Sommer. Sie fühlt sich leer und einsam. Und das Ende ist doch fast wie im Teenagerroman mit rosarotem Umschlag.
Anne Hahn: Dreizehn Sommer. Roman. SchirmerGraf, München 2005, 328 S.,
18,80 EUR
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