VIP-ZONIE

Berliner Abende Kolumne

"Urteile nicht über Dinge, von denen du nur Echo und Schatten kennst." Frau X, die verkannte Gattin des Literaturkritikers Y, hat in ihrem Feng-Shui-Kurs ein neues Sprichwort gelernt, das ihr ausnehmend gut gefällt. Welches sie nun hin und wieder poliert und auch anzuwenden gedenkt. Aber an diesem frühen verregneten Sommerabend ist sie uneins mit sich und der Welt. Die trifft sich im Transit eines weißen Festzelts und wartet darauf, dass sie geschieden wird in wichtig und unwichtig. La Crème wird devot durchgewunken, veritable Nobelpreisträger sind darunter; das alles vor dem neuen lichten Akademiegebäude und samt Ehrenkarte, mit angedeutetem Hackenschlag, dezent preußisch gefärbt. Das Volk zückt sein Portemonnaie und zahlt den Eintritt höchstselbst. Wer sich hier unwichtig fühlt, ist selber schuld. Hauptsache, der Begleiter führt das VIP-Ticket mit sich. So darf Frau X darauf hoffen, von Türhüterbücklingen ölig begrüßt zu werden. Schon wieder gespart ohne zu verzichten, das hat Stil.

Immerhin, das ärgerliche Gefühl, sich unverdient vom Glanze anderer zu nähren, nagt in Frau X und dämpft die festliche Gestimmtheit. So hält sie sich fern vom VIP-Karteninhaber. Allein aus Befindlichkeitsgründen. Und tritt ins Offene. Erstaunt sieht sie sich um. Leicht könnte einem schwindlig werden im Glaspalast am Pariser Platz Numero vier. Wenn nicht die operettenhafte Fassadendekoration des nachgebauten Adlon gleich darauf das Auge kränkte.

Rampen schießen von irgendwo quer durch den Raum. Hängende Treppen schwingen auf und nieder, verwirren sich, verirren sich. Auf einer steht der Präsident und beendet seine Rede. "Sehr schön. Haben wir das bereits hinter uns", denkt Frau X froh. Und betrachtet mitleidig die pünktlich erschienenen Gäste, die sich in Mengen an eine gläserne Wand gequetscht wiederfinden und derart malträtiert nach Luft schnappen. Sie wendet den Blick und sieht sich freundlichst angelächelt von jemand, dem sie bestimmt einmal vorgestellt wurde. "Bestimmt", denkt sie. Doch das Erinnerungsvermögen leckt. Ihr fällt´s nicht ein. Was bleibt, ist auf dem Absatz eine spontane Fluchtumdrehung zu vollziehen, die sie geradewegs in die zum Willkommen ausgestreckten Arme einer zweiten Fremden führt. Hastiges Lagepeilen bringt folgendes Ergebnis: Alles zu spät! Auch die Fluchtwege rechts und links sind versperrt. Erstens durch einen Literaturnobelpreisträger mit Frau, zweitens durch noch einen Literaturnobelpreisträger mit Frau. Frau X wird vorgestellt. Sie ahnt nicht von wem und weiß nicht warum. Ihr Name wird dem Nobelpreisträger rechts zugemurmelt, der die vor Verlegenheit stumme Unbekannte mit einem Lächeln begrüßt, wie gegossen aus einer schwer zu übertreffenden Melange von Väterlichkeit und Dandytum.

Im nächsten Moment wird das Grüppchen in einer drängenden Bewegung zum Lift geleitet. Der erste Nobelpreisträger winkt Frau X zu, lässt ihr galant den Vortritt. Sie zögert heftig. Wie kann sie es wagen den Aufzug zu betreten, vor ihm, der das KZ überlebt hat? Muss er nicht immer und überall den Vortritt erhalten, bis an sein Lebensende? Y, ihr VIP-Karteninhaber, unterbricht die schwerwiegenden Gedankengänge, schiebt sie hinein und quetscht sich hinterher. Eben gleiten die Türen zu, da schwingt sich eine zierliche Japanerin mit weißem Gesicht und blutrotem Mund durch den schmalen Spalt in die Kabine. Eine Alarmsirene schrillt. Alle im Aufzug sehen sich an, sehen sich um, erschrocken, vielleicht nach Sprengsätzen forschend. Ein Sicherheitsmann eilt heran und stellt klar: Die Besatzung sei zu schwer. "Aber ich wiege nur 42 Kilo!", ruft die bambusschlanke Asiatin, und ihre schwarzen Brauenbögen tanzen amüsiert. Frau X in ihrer Ecke findet die Muße, das sagenhaft flach an den Kopf gebügelte Ohrenpaar des schnauzbärtigen Nobelpreisträgers zu betrachten, der sich kurz dreht, um sie stirnfaltenwerfend anzusehen.

Und wenn wir steckenblieben? Frau X macht es Freude, sich den Schatten eines Schreckens vorzustellen. Oh, hier verpasste niemand etwas. Die ganze vortragende Prominenz ist mit an Bord. Wenn jemand auf die Idee käme, den Eingeschlossenen zum Zeitvertreib, sagen wir, Gedichte vorzutragen? Sie fasst den Schnauzbart scharf ins Auge. Lässig klemmt da eine Mappe unter seinem Arm. Allzeit bereit, sein zwanzigstes Jahrhundert zu rezitieren. Und ließen es die Umstände nur zu, auch zu aquarellieren. Aus dem Stand.

Doch, Gott sei Dank, die Türen schließen sich. Der Aufzug ruckelt leicht. Sie schweben in die Höhe und finden sich, den Vortragssaal betretend, von Glas umschlossen. An einer Seite klebt nach Atem ringend, immer noch gedrängt das Volk, macht ultraböse Blicke. "Ganz schön anstrengend, so privilegiert zu sein", raunt da einer Frau X ins Ohr.


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