Am 25. November 2006 werden anlässlich des Internationalen Tages "Nein zu Gewalt an Frauen" wieder in 800 deutschen Städten Fahnen von Terres de Femmes gehisst. Mit dieser Aktion startet die Tübinger Frauenrechtsorganisation eine zweijährige Kampagne gegen die hochtabuisierte Menschenrechtsverletzung. Sie beruft sich dabei vor allem auf die Studie "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland", die erstmals repräsentativ Gewalterfahrungen von Frauen in Deutschland untersuchte.
Gewalt an Frauen ist die wohl stillste aller schweren Menschenrechtsverletzungen. Wenn Frau und Kind über Balkonbrüstungen von Hochhäusern geworfen oder Mädchen in privaten Kerkern unter einer Garage gefunden werden, zeigen die Boulevardmedien Gro
evardmedien Großaufnahmen und erzählen Geschichten zum angenehmen Mitschaudern. Von Frauen, die im Alltag erniedrigt, eingesperrt, gewürgt, geschlagen, vergewaltigt werden, hört man in der Regel nichts. Es liegt in der Natur der Sache. Denn lange wurde in Deutschland, wenn Gewalt an Frauen mit Zahlen belegt werden sollte, die Kriminalstatistik herangezogen. Bevor eine Gewalttat jedoch in den Polizeidaten erkennbar wird, muss sie zur Anzeige gebracht worden sein. Welcher Mensch aber zeigt seinen engsten Vertrauten an? In der Liebe gilt noch immer "Wir gegen den Rest der Welt". Und niemals: "Ich mit dem Rest der Welt gegen meinen Mann." In der Kriminalstatistik ergibt sich hinsichtlich gewalttätiger Lebenspartner und Ehemänner daher das, was gemeinhin als "blinder Fleck" bezeichnet wird.Der "blinde Fleck" wäre treffender als ein unbemerkt schwelender Flächenbrand zu bezeichnen. Einer, der in ungezählten Küchen, Schlaf- und Wohnzimmern vor sich hin glimmt, um nur ab und an spektakulär aufzulodern. Im vergangenen Jahr wurden erstmals Daten einer ersten großen, repräsentativen Studie diskutiert, die deutschlandweit in nennenswertem Umfang Frauen in ihren Haushalten über eigene Gewalterfahrungen befragte. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland hieß die Forschung und wurde vom Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld durchgeführt. 10.000 Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren wurden interviewt. Um das Schamgefühl wissend - wer wäscht schon gern den intimsten Schmutz aus der eigenen Bettwäsche, vor einer fremden Interviewerin - konnten die Frauen einen Teil der Fragen selbst schriftlich beantworten und den Forscherinnen in einem geschlossenen Umschlag zukommen lassen.Es stellte sich zunächst heraus, dass Deutschland im europäischen Vergleich nicht etwa auffallend friedlich, zivil, emanzipiert abschneidet, sondern in punkto Prügelquote im "mittleren bis oberen Feld" rangiert. 40 Prozent der Frauen in Deutschland gab an, körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt zu haben - oder beides. Das ist alarmierend - und bestätigte in etwa Dunkelfeldschätzungen der Frauenpolitik und Frauenprojektebewegung - die stets für hoch gegriffen gehalten worden war. Auffallend war, dass die Studie hinsichtlich der "Gewalt in Paarbeziehungen" Ergebnisse zu Tage förderte, die alle jemals geschätzten Daten in den Schatten stellten. Jede vierte Frau erzählt von Gewalt durch ihren Freund, Geliebten, Ehemann. Und dabei sind es nicht die kleinen Schupsereien oder leichten Ohrfeigen, die den Kohl fett und die Zahl beeindruckend machen. 64 Prozent der Betroffenen berichten von Übergriffen, die zu Prellungen, Verstauchungen, Knochenbrüchen, offenen Wunden, Kopf- und Gesichtsverletzungen führen. Der Würger, Schläger, Vergewaltiger ist nicht der fremde Mann. Die Gefahrenzone nicht der dunkle Park. Das Böse schleicht auf Hauspantoffeln.Geprügelt wird in jeder Gesellschaftsschicht und Einkommensgruppe. Unterschiede bestehen in Form und Ausprägung von Gewalt, als auch in deren Sichtbarwerden. So sind körperliche Übergriffe in der Unterschichtenfamilie in einem Mietshaus kaum zu überhören. Im Vergleich dazu, vermutet Monika Schröttle, Leiterin des Forschungsprojektes, finde man in der oberen Mittelschicht oder Oberschicht verdecktere, subtilere Gewalt. Die Gewalt ist wohlhabend oder arm und gehört allen erdenklichen kulturellen Gruppen an - signifikant ist vor allem eines: 70 Prozent der Übergriffe geschehen in Wohnungen. Die schwersten aller Verletzungen werden in Beziehungen zugefügt. Je größer die finanzielle und existenzielle Abhängigkeit desto länger verharren die Frauen in den Beziehungen. Und je länger die Beziehungen bestehen, desto niedriger sinkt die Hemmschwelle, und umso exzessiver wird die Gewalt. Und: Selten wenden sich Frauen an Ärzte, Frauenhilfseinrichtungen oder die Polizei. Weniger als elf Prozent aller Frauen gab an, nach körperlicher oder sexueller Gewalt mit einem professionellen Helfer gesprochen zu haben. Zu groß war die Scham, sich als Opfer auszustellen - oder gar den Vertrauten schuldig zu sprechen.Der letzte Ausweg für Gewaltopfer ist oft der Weg ins Frauenhaus. In 400 Frauenhäusern des Landes suchen jährlich rund 40 000 misshandelte Frauen eine sichere Bleibe. Auffallend viele Migrantinnen sind unter ihnen - sie stellen einen Anteil von 35 bis 50 Prozent. Das heiße jedoch nicht, dass diese stärker von Gewalt betroffen seien, meint Monika Schröttle. Vielmehr zeige sich, dass Migrantinnen stärker auf Frauenhäuser angewiesen seien, weil es für sie schwieriger sei, innerhalb des Familiengeflechts unterzutauchen. Immerhin einem Drittel der Frauen in Frauenhäusern gelingt es, anschließend ein selbstständiges Leben zu führen. Andere kommen in Frauenwohnheimen und Mutter-Kind-Einrichtungen unter. Ein Drittel allerdings kehrt zu ihrem Peiniger zurück.Frauenhäuser sind weder die Lösung der Probleme, noch sind sie ein probates Mittel zur Verhinderung von häuslicher Gewalt. Doch sie sind ein Schutzraum - und die Aussage einer 70-Jährigen, die sich in einem Frauenhaus wegen augenblicklicher Überfüllung nach dem Wochenende wieder melden sollte: "Am Montag? Da bin ich vielleicht schon tot" gibt einen Eindruck davon, welche Rolle sie in Notsituationen spielen können. Obgleich Deutschland mit seiner Versorgungsdichte an Frauenhäusern noch immer weltweit an der Spitze steht, haben in den letzten Jahren systematische Kürzungen seitens der Politik dazu geführt, dass einige Einrichtungen schließen mussten, dass Personal abgebaut wurde - und immer wieder Frauen abgewiesen werden, weil die Aufnahmekapazitäten erschöpft sind.Mit ihrer Aktion - Fahnen in 800 Städten zu hissen, Musiktheater, Lesungen, Filmen und einer Podiumsdiskussion bei einer Auftaktveranstaltung in Frankfurt am Main - will Terre de Femmes zunächst Flagge zeigen. "Frauen schlägt man nicht", heißt der Slogan. Natürlich glaubt niemand, dass gewalttätige Ehemänner den wohlgemeinten Slogan lesen und fortan davon ablassen, ihre Frau zu verprügeln. Noch dass Frauen angesichts dessen augenblicklich den Mut fassen, die gewaltgeladene Partnerschaft zu verlassen. Dennoch ist es ein Signal - ein selbstbewusstes politisches Zeichen, das besagt, dass es eben keine Privatsache ist, was da hinter den Wohnungstüren geschieht. Dass diese Menschenrechtsverletzung in der öffentlichen Sphäre wahrgenommen wird - und dass man sie nicht duldet.Wesentlicher - und möglicherweise nachhaltiger spürbar - ist die politische Zielsetzung der Kampagne: Die Studie über die Gewalt an Frauen - die mit großem Aufwand über drei Jahre hinweg betrieben und an deren Ergebnissen im Detail noch immer geforscht wird - soll nicht im Sande versickern, wie viele engagierte Forschungen, die den Dunstkreis von Expertendiskussion und Wissenschaft nie wirklich verlassen. Terre de Femmes versucht, zu erreichen, dass die Ergebnisse der Erhebung in möglichst konkrete Maßnahmen münden:"Häusliche Gewalt muss als gesellschaftliches Phänomen begriffen werden, das alle angeht. Nur dann werden Frauen und Kinder heute geschützt und die Gewalt nicht in die Zukunft transportiert", formuliert die NGO das Kampagnenziel. Die Organisation verlangt nicht nur verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, Präventionsarbeit und niedrigschwellige Interventionsangebote, sie fordert auch, Häusliche Gewalt zum Querschnittsthema in allen Ministerien zu machen.Zu den zentralen Forderungen gehört "die ausreichende pauschale Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen", erklärt Christa Stolle, langjährige Geschäftsführerin von Terre de Femmes. Denn "Gegenwärtig plagen die Frauenhäuser Existenzängste und jedes Jahr müssen erneut bürokratische Hürden genommen werden, damit die Finanzierung gesichert ist. Da bleibt für die Hauptarbeit mit den Frauen oft zu wenig Zeit." Weiterhin will Terre de Femmes, dass Migrantinnen mit unsicherem Aufenthaltsstatus zukünftig dieselben Hilfs- und Schutzangebote in Anspruch nehmen können, wie deutsche Staatsbürgerinnen.Es ist durchaus davon auszugehen, dass die Kampagne von Terre de Femmes Folgen haben wird. Denn zum Einen sind die Fahnenaktionen der NGO, die seit fünf Jahren zu unterschiedlichen Themen die Flaggen hissen, bekannt und werden von zahlreichen Frauenbeauftragten und Verbänden mitgetragen. Zum Anderen verfügt die Tübinger Frauenrechtsorganisation über politisches Gewicht in Berlin. Insiderkreise wissen, dass etwa das kürzlich verabschiedete Gesetz gegen Zwangsheirat auf eine Initiative von Terre de Femmes zurückgeht.
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