500 Mafiosi in Käfigen

Film Marco Bellochio stellt den Großprozess gegen die Cosa Nostra 1986 nach
Ausgabe 34/2020
Pierfrancesco Favino als Mafiaboss Tommaso Buscetta im Exil in Brasilien
Pierfrancesco Favino als Mafiaboss Tommaso Buscetta im Exil in Brasilien

Foto: © Lia Pasqualino/Pandora Film

Zu nah dran zu sein ist selten etwas Positives; zu weit weg aber darf man sich auch nicht bewegen, vor allem natürlich, wenn es ums Verfilmen von historischen Persönlichkeiten geht. Marco Bellochio, trotz seiner mittlerweile 80 Jahre aufgrund seines rebellischen und flexiblen Geistes immer noch einer der jüngsten Filmemacher Italiens, entscheidet sich in Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra bewusst für die Ungemütlichkeit zu großer Nähe: Von Anfang an ist man als Zuschauer gewissermaßen zu dicht dran an Massimo Buscetta (Pierfrancesco Favino). Das gilt nicht nur für die Kamera, die oft auf dem Hängebackengesicht Favinos oder seinem für die Rolle gedrungen und schwer gehaltenen Körper verweilt, das gilt vor allem für die Perspektive auf die Dinge, von denen hier erzählt wird.

Buscetta ist der „Verräter“ des Titels, seinen Aussagen ist es zu verdanken, dass es 1986 in Palermo zu jenem „Maxiprocesso“ kam, dessen Bilder um die Welt gingen: Fast 500 Mafiosi wurde gleichzeitig der Prozess gemacht in einem eigens dafür gebauten, theaterähnlichen Gerichtssaal mit Richtern auf der Bühne, Anwälten im Parkett und Angeklagten in Käfigen als säumende Galerie. Die Szenen, in denen Bellochio das geradezu groteske Geschehen von damals nachstellt, bilden den unschlagbaren, eindringlichen Höhepunkt des Films. Es lohnt sich allein dafür durchzuhalten.

Denn es braucht durchaus etwas Sitzfleisch, um bis dahin dabeizubleiben. Zwar passieren Morde, Überfälle und Folterungen quasi im Akkord, aber weil man so dicht dran ist an Buscettas Perspektive, fällt es schwer, alles einzuordnen. Anders gesagt: Man folgt dem emotionalen Bogen, den das Ganze für Buscetta ergibt, angefangen vom Frieden unter den Cosa-Nostra-Familien auf Sizilien noch 1980. Buscettas großer Freund ist da noch Pippo Cálo, in dessen Obhut er seine bei der Cosa Nostra aktiven Söhne lässt, als er selbst sich in Rio de Janeiro unter falschem Namen zur Ruhe setzt. Aber Cálo wechselt die Seiten, bringt Buscettas Söhne um und unternimmt nichts, als man ihn in Brasilien verhaftet und dann nach Italien ausliefert. So gesehen ist es die Geschichte einer Männerfreundschaft, in der Buscettas Verrat als ein Akt der – legitimen? – Rache erscheint. Ohne Zweifel hat Buscetta es selbst so gesehen. Aber muss man dem auch glauben?

Die Kraft obszöner Gesten

In Bellochios Film muss man es nicht. Denn seine Nähe ist keine identifikatorische Nähe, die einen als Zuschauer dazu bringt, mit den Antihelden zu fiebern. Im Gegenteil wird einem dieser Buscetta immer unsympathischer; mehr und mehr fallen einem seine verlogene Sentimentalität, ja seine Schmierigkeit ins Auge. Giovanni Falcone, jener legendäre, von der Mafia 1992 ermordete Richter, der den Maxiprocesso vorbereitete, widerspricht ihm einmal beim Verhör entschieden: Diese „ehrwürdige“ alte Cosa Nostra, in deren Namen Buscetta die „korrupte“, heroinhandelnde Mafia der Gegenwart verrate, sei doch ein totaler Mythos, geschaffen zur bloßen Rechtfertigung schrecklicher Taten. Er habe Falcone geliebt, wird Buscetta später erzählen, es seien wunderbare Gespräche gewesen zwischen ihnen ... Die Schlüsselszenen des Films leiden, das muss man leider sagen, unter der Synchronisation ins Deutsche, die ansonsten wunderbar professionell gemacht ist. Doch wenn sich die Männer während des Prozesses konfrontieren, mit all den angedeuteten, obszönen Gesten und Ausdrücken, halb ausgesprochen oder auch gebrüllt, sind die Grenzen der Übersetzung aufgezeigt. Nicht nur weil sich der eigentümliche Gegensatz von sizilianischem Dialekt und italienischer Hochsprache nicht nachbilden lässt, den die Cosa-Nostra-Männer durchaus mit Kalkül bespielen. Es lässt sich auch der weißglühende, alle Vernunft vergiftende Hass, der in einem Satz wie „ich kenne diesen Mann gar nicht“ liegen kann, nicht einfach übertragen. Was auf der verbalen Ebene passiert, als Buscetta und Cálo sich begegnen, was sie zueinander sagen, ist kaum von Bedeutung. Alle Gewalt liegt hier in den darunter verborgenen Gefühlen. Verachtung, Rachsucht, Wut, es sind diese „Männeremotionen“, die die wahre Brutalität der Cosa Nostra ausmachen.

Info

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Mafia Marco Bellochio Italien 2019, 153 Minuten

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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