Das Schöne an der Provinz ist ihre Übersichtlichkeit: Am Anfang der Straße das Entbindungsheim, dahinter das Unfallkrankenhaus, dann die Garküche, gegenüber das öffentliche Dampfbad und das Leichenschauhaus - alle wesentlichen Institute zur Ver- und Entsorgung der menschlichen Grundbedürfnisse finden sich hier auf engstem Raum versammelt. Und wo die Welt so klein ist, treten die Eigenarten ihrer Bewohner um so deutlicher zu Tage. Zum Beispiel die einsame Ratlosigkeit der Männer vor dem Entbindungsheim: "Ist es da?" "Ja." "Ein Sohn?" "Nein." "Was dann?"
Als Erzähler aus der russischen Provinz, genauer der 800 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Stadt Kirow, präsentiert der Alexander Fest Verlag den 28 Jahre alten Alexander Ikonnikow, ganz so, als käme nun endlich zum großen Chor all der "urbanen" russischen Autoren eine Stimme vom Land hinzu, die Menschen und Schicksale jenseits der bekannten metropolen Bahnen schildert. Dabei ist das von der Literatur geprägte Russlandbild seit dem 19. Jahrhundert ein unverändert provinzielles, während ein Großstadtroman moskowiter Herkunft ja eher die Ausnahme bildet. Weshalb die Figuren und Umstände in Ikonnikows Erzählungen auch gar nicht wirklich neu erscheinen, sondern ganz im Gegenteil in vielem an die skurrilen Randfiguren von Gogol bis Tschechow erinnern. "Wir kommen alle von Gogols Mantel her", soll Dostojewski gesagt haben, und auch Ikonnikow wird diese Abstammung kaum verleugnen wollen.
Die Dominanz des Provinziellen in der russischen Literatur ist denn auch weniger den gleichbleibenden Vorlieben der Autoren als vielmehr realen Gegebenheiten geschuldet: So rasant sich Russland in den letzten hundert Jahren urbanisiert hat, reproduzierten sich inmitten der städtischen Neubauten doch wieder die typisch dörflichen Strukturen - mit den schachspielenden alten Männern in den Höfen, herumtobenden Kindern und Sonnenblumenkerne-knackenden Frauen, die die heranwachsenden Mädchen misstrauisch beäugen: "So ein kokettes Luder!".
Bei vielen Geschichten von Ikonnikow lässt sich deshalb gar nicht so genau ausmachen, ob sie nun in Kirow oder einer noch kleineren Stadt spielen, denn die beschriebenen "Soziotope" sind bis ins Moskauer Stadtzentrum hin weit verbreitet. Provinziell sind deshalb auch weniger die erzählten Begebenheiten als vielmehr die Art und Weise des Erzählens, was allerdings keineswegs abwertend gemeint ist.
Ganz analog zu seinem bevorzugten Gegenstand, den "kleinen Leuten", wählt nämlich Ikonnikow stets die kleine Form und nimmt sie überraschend wörtlich. Die meisten Erzählungen in TaigaBlues sind kaum länger als zwei Seiten und darüber hinaus würde ihre Nacherzählung soviel Raum einnehmen wie sie selbst. Der Beschränkung im Umfang entsprechend sind auch der Erzählperspektive absichtsvoll Grenzen gesetzt, sowohl was die Breite angeht - werden in der einen Geschichte die zwei Quadratmetern eines Balkons nicht verlassen, bleibt die andere ganz im Rahmen der zwei Quadratkilometer eines Dorfes - als auch in der Tiefe: in die Seelen seiner Helden wirft der Erzähler nur flüchtige Blicke, wie das eben so ist in der Provinz, die Menschen sind ganz das, was sie tun oder auch lassen.
Wie zum Beispiel in der Geschichte des Beins, das die Melkerin Krotowa an einem kalten Februarabend ihrem Mann abhackt: Nie werden wir erfahren, warum sie das tat, sehr wohl aber, dass sowohl das Krankenhaus als auch das Leichenschauhaus die Annahme des unbrauchbar gewordenen Körperteils verweigern, woraufhin das Bein im entlegenen Dickicht entsorgt wird und der Miliz in der Nachbargemeinde nach dem Frühjahrstau viel Scherereien bereitet. Oder auch in der kurzen Chronik eines siebenjährigen Krieges, in der ein einzelner hergereister Farmer binnen kurzem der alteingesessenen Kolchose Konkurrenz macht, was diese sich natürlich nicht gefallen lässt. Auch hier erfahren wir nichts über Gründe oder gar Hintergründe. Ikonnikow liebt das trockene Erzählen, auf weitergehende Analysen verzichtet er.
"Hab´ keine Angst, banal zu sein, das Leben selbst ist banal", zu diesem Wahlspruch einer seiner Figuren scheint Ikonnikow sich vordergründig bekennen zu wollen, in dem er Anekdote um Anekdote aneinander reiht und oft genug einfach durch unerwarteten Abbruch der Erzählung eine Pointe setzt. Doch die behauptete Bedeutungslosigkeit dient ihm wie in jedem guten Witz nur als Verkleidung, um sich genau besehen an alten russischen Nationalmythen abzuarbeiten: dem vom Diebstahl als Volkssport und der Nachlässigkeit als Volkstugend - ohne die die Strenge der Gesetze gar nicht zu ertragen wäre - von der Trägheit der Behörden, die in zwanzig Jahren nur eine Laterne reparieren und dem allgegenwärtigen Neid auf den Nachbarn, der gefälligst so arm bleiben soll, wie man selbst schon immer war. Vom seit Jahrhunderten beklagten schlechten Zustand der Straßen bis hin zum Topos des nationalen Verfluchtseins taucht alles auf: "Aljoscha hatte aus einem Grund im Leben immer Pech. Er war Russe."
Und natürlich darf auch der zentrale Mythos der russischen Identität nicht fehlen: das innige Verhältnis zum Alkohol. Von "obdachlosen Alkoholikern mit 20-jähriger Saufpraxis" weiß Ikonnikow zu berichten, und von ganzen Dörfern, die nach einer Feier noch eine Woche weiter trinken müssen, um den Kater zu bekämpfen - und dafür eben die Ernte verscherbeln, deren Einbringung zuerst gefeiert wurde. Wenn letzteres auch ein Extrembeispiel sein mag, von dem Flair der zirkulären Vergeblichkeit sind die meisten der in TaigaBlues versammelten Geschichten durchzogen, was ihren ganz besonderen Charme ausmacht. In der steten Wiederkehr des Scheiterns, das als typisch empfunden wird, zeigt sich denn auch die berüchtigte provinzielle Enge. Nirgendwo in Ikonnikows Buch wird man jedoch eine Anklage dagegen finden, kaum jemals erfährt sein trockener Humor eine bösartige Zuspitzung. Als Erzähler nämlich weiß er um das Paradox, dass in der Überschaubarkeit der kleinen Verhältnisse ein unermesslicher Reichtum an Anekdoten vergraben liegt. Und außerdem ist Russland ein weites Land.
Alexander Ikonnikow: TaigaBlues. Übersetzt von Annelore Nitschke. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 160 S., 14, 90 EUR
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