Eines der schönsten Zitate zum Thema "Europa" findet sich in Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction. Der in die USA zurückkehrende John Travolta erklärt seinem Arbeitskollegen Samuel L. Jackson, was das Besondere an Europa sei: All die kleinen Unterschiede. Zum Beispiel, dass der Cheeseburger in den französischen McDonalds nicht "Cheeseburger" heiße, sondern "Royal mit Käse".
Das Zitat bringt die kulturelle Situation im erweiterten Europa besser auf den Punkt als viele feierliche Reden. Tatsächlich kommen mit den zehn Ländern, die der europäischen Union beitreten, zunächst vor allem viele kleine Unterschiede hinzu. Gleichzeitig aber beschleunigt sich die Angleichung der Alltagskulturen, die doch die Grundlage der nationalen Identitäten bilden.
"Was können wir Europa bieten?" war denn die mehrfach auf dem 4. Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden zu hörende Frage aus dem Mund von Vertretern der betreffenden Länder. Und egal ob sie von Tschechen, Slowaken, Slowenen oder Esten gestellt wurde, lautete die selbst gegebene Antwort einheitlich: "Unsere Kultur!"
So selbstverständlich den Mittel- und Osteuropäern dieses Angebot erscheint, so befremdet reagiert darauf der Westen. Das Filmfestival in Wiesbaden, zu dem stets ein Symposion gehört, das sich in diesem Jahr den "Identitäten der Nachwendezeit" widmete, ist eine jener Ausnahmen, die die Regeln bestätigen. Das Interesse an den Kulturgütern - gegenläufig zu den "Industriegütern" - aus Osteuropa ist seit dem Ende des Kalten Kriegs beständig gesunken. Der Anteil der literarischen Übersetzungen aus osteuropäischen Sprachen ging genauso zurück wie der Anteil der Filme, die bei uns ins Kino kommen. Und nicht nur das: Auch auf den eigenen Märkten hat die einheimische Kulturproduktion es sehr schwer, sich gegen die Übermacht der globalisierten Kulturindustrie zu behaupten. Lange vorbei auch die Zeit, als etwa tschechische Fernsehproduktionen bei uns ausgestrahlt wurden. Wenn heute Osteuropäisches im deutschen Fernsehen gezeigt wird, dann meistens als abschreckendes Beispiel eines aus dem Westen exportierten "Big Brother"-Formats, das im angeblich ruchlosen Osten auf die Spitze getrieben wird.
Doch auch dort gilt "Reality-TV" längst als Indikator kultureller Dekadenz. Dass sich die eigene Tochter bei den privatesten Verrichtungen von Live-Fernsehkameras beobachten lässt, muss der Vater entdecken, der in Jerzy Stuhrs Wettbewerbsbeitrag Das Wetter von Morgen nach 17 Jahren klösterlicher Abgeschiedenheit wieder in die Welt kommt. Damit nicht genug, findet er seinen ältesten Sohn in zynische Politgeschäfte verstrickt und die jüngste Tochter drogensüchtig. Ein harter Schlag für den einstigen Solidarnosc-Anhänger. Das Sympathische an Stuhrs Film besteht darin, dass sein Held nun nicht die alten Ideale beschwört, sondern im Grunde auf sehr hilf- und ideenlose Art und Weise versucht, seinen Kindern zu helfen. Dass ihm das am Ende gelingt hat mehr mit der paradoxen Logik von Filmkomik als mit der Realität zu tun: wie der Phönix aus der Asche entsteigt dem von ihm angerichteten Chaos eine neue Ordnung.
Stuhrs konservativer Film ist kein Beispiel für das neue innovative Kino in Osteuropa. Und doch kann man an ihm einen Trend ablesen: Die Filme sind optimistischer geworden. Wo früher dunkle Parabeln und düstere Schilderungen sozialer Verelendung dominierten, werden heute verstärkt die komischen Seiten auch aussichtslos scheinender Situationen entdeckt. Die spirituelle Intensität, die einst das osteuropäische Kino so unverwechselbar machte, ist einer neuen Einfachheit gewichen. Auch wenn damit wieder einer der vielen Unterschiede verloren gegangen ist, entsteht zugleich die Chance einer neuen Nähe: In den arbeitslosen "Old School-Intellektuellen" aus dem estnischen Dokumentarfilm Lebenskünstler dürften sich viele hierzulande ebenso wiedererkennen wie in den beiden polnischen Jugendlichen, die in "Eine Bar an der Victoria Station" in London angespannt und am Rande der Verzweiflung nach Arbeit suchen.
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