AlleAlle von Pepe Planitzer

Kino Der Reiz einer Landschaft hat viel zu tun mit den Menschen, die sie bewohnen. Eitel wie sie sind, gestehen sie sich das selbst nicht ein: je weniger ...

Der Reiz einer Landschaft hat viel zu tun mit den Menschen, die sie bewohnen. Eitel wie sie sind, gestehen sie sich das selbst nicht ein: je weniger Menschen, desto reizender die Landschaft. Die alarmierenden Botschaften über "Entvölkerung" ganzer Landstriche im Osten Deutschlands lösen nicht zuletzt deshalb kaum echte Bestürzung aus. Mitten im durchkultivierten Europa entstehen auf einmal wieder Inseln von Wildwuchs. Und wer das Kino kennt, weiß, was das heißt: Zufluchten für Desperados und andere Außenseiter.

Irgendwo im dünn besiedelten Süden Brandenburgs spielt Pepe Planitzers Film AlleAlle und tatsächlich sind selten mehr als drei Menschen in einer Einstellung zu sehen. Drumherum Seen, Landstraßen, Felder und Haine, von der Kamera so aufgenommen, als seien sie absichtlich verstummt, damit sie auch ja niemand mehr bemerkt. In der Tonlage dieser verhaltenen Romantik heißt der Ort, an dem die Hauptpersonen aufeinander treffen, Altes Lager. Auch die drei sind übrigens ganz froh, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Da ist Hagen (Eberhard Kirchberg), ein groß gewachsener Mann Ende 40 mit dem Gemüt eines 4-Jährigen. In den ersten Szenen wird er aus dem Heim in die Pflege seines einzigen Verwandten, eines Neffen, entlassen. Der Film deutet nur an, dass es sich dabei um eine staatliche Sparmaßnahme handelt - die der Neffe prompt für sich ausbeutet: Statt Hagen wie versprochen vom Bus abzuholen, hat er sich vom Pflegegeld ein Flugticket gekauft. Weshalb es zu folgender Begegnung kommt: Der volltrunkene Domühl (Milan Peschel) bleibt auf einsamer Straße mit dem Auto hängen. Er schimpft hilflos vor sich hin, als plötzlich jemand von hinten zu schieben anfängt. Erstaunt wendet er sich um und entdeckt Hagen. "So eine Scheiße, Sie hat der Himmel geschickt!"

Als Zuschauer weiß man, dass diese beiden nun voneinander nicht mehr loskommen. Domühl allerdings, nachdem trotz Trunkenheit zu ihm dringt, dass er den hilfsbereiten, aber beschränkten Mann nicht mit Abendessen und Logis für eine Nacht wird abspeisen können, macht noch einige Anstrengungen. Er ruft die Nervenkliniken der Gegend durch, gibt eine Vermisstenanzeige auf, setzt ihn schließlich entnervt sogar einfach irgendwo in der Landschaft ab - und kommt dann doch noch mal zurück. Währenddessen wachsen sie zu einem "seltsamen Paar" zusammen, wie es sie leider nur auf der Leinwand gibt. Der friedfertige, schweigsame Hüne und der zu Jähzorn neigende, unentwegt plappernde Alkoholiker ergänzen sich bestens. Von Domühls Sorgen erweist sich Hagen als die geringste. Mit seinem Gerüstbaubetrieb macht er gerade pleite, die Bank verweigert ihm den Kredit, die alte sowjetische Kaserne, die sein verstorbener Vater für einen Euro gekauft hat, ist von Altlasten verseucht. Er hat einigen Grund dafür, die Schnapsflasche immer bereit zu halten.

Allerdings gibt es da noch Ina, die mit ihm im selben Haus wohnt. Ina (Marie Gruber) ist auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden; wofür sie saß, erfährt man nie. Domühl hat auf Ina ein Auge geworfen, und nach und nach erblickt ihrerseits die stets nüchterne, reife Frau in ihm das, was der Alkohol verschleiert: einen erfindungsreichen Träumer, der sich in widrigsten Umständen wundersam zurechtfindet und echte Zuneigung für sie empfindet. Es braucht ein paar pannenreiche Wendungen und ernstere Zwischenfälle, damit aus diesen dreien eine solide Gemeinschaft der Verstoßenen und Chancenlosen wird. Am Ende ist es die verlassene Landschaft, die ihnen eine provisorische, aber dennoch ideale Heimat bietet.

Auf den ersten Blick ist Planitzers Film eine krude Mischung aus Skurrilität und Realismus. Auf den zweiten Blick jedoch entdeckt man genau darin eine ganz eigene Poesie: Samt der Landschaft sind die Protagonisten so genannte Wendeverlierer, Hartz IV- und Globalisierungsopfer. AlleAlle, das ist ihre Bilanz: Sie haben nichts mehr. Doch wenn es heißt, dass Freiheit nur ein anderes Wort dafür ist, nichts mehr verlieren zu können, gilt eben auch die Umkehrung. Und so gibt der Film seinen Helden ihre volle Würde zurück, weil er sie, inmitten der verlassen Landschaft, frei wie nie erscheinen lässt.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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