Es ist eine absurde Situation. Zur Bekämpfung des Terrorismus wurde in Jerusalem eine Mauer gebaut. Sie durchtrennt einen vorher organisch zusammengehörenden Stadtraum. Nun wohnt der palästinensische Tankstellenbesitzer auf der einen Seite der Mauer, während seine Tankstelle sich auf der anderen befindet. Es ist still geworden auf der einst verkehrsreichen Straße, so dass er viel Zeit hat, das Treiben an der Mauer zu beobachten. Dort zwängen sich immer wieder Menschen durch die Lücken und Risse der nicht sehr hohen Betonpfeiler, die mehr ein lästiges Verkehrshindernis darstellen als einen Schutzwall. Der Stacheldraht oben ist längst abgetragen. An manchen Stellen gibt es provisorische Treppen zum Drübersteigen. Die zur Straßenkontrolle stationierten Soldaten drehen dem Geschehen absichtlich den Rücken zu, das gründliche Kontrollieren wäre zu aufwändig. Ob Israelis oder Palästinenser, die Mauer scheint umgeben von einer Allianz des Kopfschüttelns; sie ist Anlass für Spott und Zynismus. Aber immerhin lacht man noch darüber. Dann fahren LKWs heran mit acht Meter langen Pfeilern im Schlepptau. Die Beklemmung ist nun fast mit Händen zu greifen. "Wenn sie die aufstellen", sagt eine aufgebrachte Israelin, "dann werden das" - sie weist auf den hässlichen, löchrigen, mit Graffiti beschmierten Betonzaun - "die guten Zeiten gewesen sein!" Good times haben die beiden Italiener Alessandro Cassigoli und Dalia Castel ihren halbstündigen Dokumentarfilm genannt, ein Titel, den man selbstverständlich ironisch versteht - von welcher "guten Zeit" kann schließlich angesichts des israelisch-palästinensischen Konflikts die Rede sein? -, der am Ende aber einen überraschend wahren, wenn auch zutiefst bitteren Sinn erhält.
Das Schwanken zwischen Ironie und Betroffenheit ist ein aktuelles Lebensgefühl. Steht doch überall die bange Frage im Raum, ob nicht das, was wir heute erleben in all seiner Unerfreulichkeit, im Vergleich mit dem, was noch kommt, schon bald zur "guten alten Zeit" werden könnte. Auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival hatte diese Frage darüber hinaus noch eine ganz konkrete Bedeutung: In der Gestalt von Fred Gehler ging letztes Jahr ein weltweit geachteter und überaus beliebter Festivalleiter in Rente. Was kann der neue Festivaldirektor, Claas Danielsen, schon dagegen tun, dass das Werk seines Vorgängers nun wie von selbst als "gute alte Zeit" erscheint?
Die Antwort darauf lautete offenbar: Nicht allzu viel zu verändern. Die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Lagern des Dokumentarfilms, zwischen "Autorenkino" - unter Fred Gehler war Leipzig ein Hort des Autorendokumentarfilms - und "Format-Filmen", sie deutete sich diesmal in Leipzig allenfalls an. Man ist erkennbar auf der Suche nach dem Genre.
Bei dieser Suche scheint der autobiografische Zugang oft der nächstliegende. Dass Filmemacher von sich erzählen, der eigenen Familie, dem Ort, an dem sie geboren sind, das war in diesem Jahr in Leipzig der vorherrschende Tonfall. So war denn der Film, der unter den Beiträgen des internationalen Wettbewerbs am meisten von sich reden machte, das sehr persönliche Videotagebuch einer Frau, die den mühsamen Genesungsprozesses ihres bei einem Schlaganfall fast zu Tode gekommenen Mannes festhielt. Dass sie dabei mit großer Offenheit auch ihre zwiespältigen Gefühle protokollierte, das Genervtsein mit dem Mann, der zum Kind geworden war, die Ressentiments gegen die Ausfallerscheinungen, genau das machte Am seidenen Faden zu einem bewegenden Dokument. Wie überhaupt es immer wieder der Einblick in ambivalente Motivationen und widersprüchliche Ursprungslagen ist, der die Stärke eines Dokumentarfilms ausmacht. Im deutschen Wettbewerb ragte in dieser Hinsicht der Film Helbra heraus, für den der Regisseur Mario Schneider in sein Heimatdorf zurückkehrte, um zwei Familien mit drogensüchtigen Söhnen zu porträtieren. Weil er einer von dort ist, verhalten sich die Familien vor der Kamera mit relativer Selbstverständlichkeit - was bedeutet, dass das Objektiv auch die Strategien des Bedeckthaltens und Verbergens protokolliert. Es sind persönlichen Geschichten wie diese, denen man die gewisse Eintönigkeit der schlecht ausgeleuchteten Videobilder verzeiht.
Manche Geschichten haben dazu eine solche emotionale Wucht, dass man das Nachdenken über die Form ganz vergisst. Für ihren Film The Watershed hat die Autorin Mary Trunk ihre Eltern, ihre sechs Geschwister, Cousins, Onkel und Tanten interviewt. Unterlegt mit alten Super8-Aufnahmen und Fotos lässt sie von ihnen die Geschichte ihrer Familie erzählen. Am Anfang steht die glückliche Großgemeinschaft, eine vorbildliche, wohlhabende Ostküstenfamilie. Dann verlässt der Vater die Familie, die Mutter versinkt in Depression und Alkohol und für die bei ihr verbleibenden Kinder beginnt eine Zeit der bitteren Armut und Verwahrlosung. Jeder schildert hier seine Sichtweise der Ereignisse, das, woran er sich erinnert; in der Zusammenstellung entsteht ein ungeheuer facettenreiches Bild eines familiären Niedergangs. Und einer überraschenden Rettung: Eines Tages holt die Tante, die selbst drei Kinder hat, die sieben ihrer Schwester zu sich. Lachend erzählt sie, das größte Problem dabei sei gewesen, immer genügend Milch im Haus zu haben - eine Szene, die in ihrem Understatement zu Tränen rührt.
Rund um die Kinos in Leipzig herrscht unentwegter Baulärm. Riesige Krater wollen mit imposanten neuen Gebäuden gefüllt sein und versprechen Prosperität. Dem Konstruktionseifer nach handelt es sich bei Leipzig noch immer um eine Art Boomtown. In den Filmen des Festivals dagegen wurde bezeichnenderweise viel von den Schwundphänomen erzählt, die derzeit in aller Munde sind, von aussterbenden Dörfern in Vorpommern oder leerstehenden Siedlungen in Hoyerswerda. Die in vielen Filmen dokumentierten Erfahrungen der letzten 15 Jahre zeigen oft genug, wie schrecklich es ist, wenn sich alles verändert; die DDR ist für viele aber immer noch ein Beispiel dafür, wie schrecklich das Gegenteil sein kann - wenn sich nichts verändert. Mit zwiespältigen Gefühlen beobachtet man die Verwandlung der Stadt Leipzig in eine Einkaufs-Puppenstube, wissend dass, wie es vorher war, nicht bleiben konnte. Für das Leipziger Dokfilmfestival gilt Ähnliches: Man will Veränderung und will gleichzeitig, dass es bei den guten alten Zeiten bleibt.
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