Cineasten pflegen Remakes, also die Neuverfilmung eines bereits gedrehten Stoffes, stets mit Skepsis zu betrachten. Die Anpassungen an den Zeitgeist, die das Remake notwendigerweise vornimmt, erscheinen im Kino oft rein opportunistisch motiviert; sie werden als Zugeständnisse an andere Sehgewohnheiten empfunden. Auf dem Theater ist es genau umgekehrt: Nicht nur, dass Remakes, die Neuinszenierung alter Stoffe, hier geradezu die Regel sind, es ist der immer wieder neu hergestellte Bezug zur Gegenwart, der erst das Interesse weckt.
Den ganzen Faust, und zwar beide Teile, in weniger als zwei Stunden zu geben, ist in dieser Hinsicht ein kühnes, geradezu verheißungsvolles Versprechen. Fast fühlt man sich mehr als videogeübter Fernsehzuschauer (Faust im Schnelldurchlauf) angesprochen denn als ernsthafter Theaterbesucher. Wäre nicht der russische Regie-Altmeister Jurij Ljubimow verantwortlich für die Inszenierung, würde man mangelnde Seriosität vermuten. Soll durch Tempo die deutsche Gründlichkeit des Nachdenkens konterkariert werden? Oder will man einfach den Zuschauer schonen?
Eine erste Antwort gibt sogleich die Musik, auf die ein Trupp Schauspieler zu Beginn und dann immer wieder kraftvoll-dynamisch über die Bühne steppt: The Entertainer ertönt als Leitthema dieser Faust-Inszenierung. Sobald die Handlung in zu viel Reflektion zu versinken droht, die Stimmung zu lyrisch oder einfach zu unübersichtlich wird, erklingt es wieder, wie eine Erfrischungsspritze, manchmal auch wie eine kalte Dusche. Und stets steppt dazu ein Zug von Schauspielern schwungvoll von links nach rechts, von rechts nach links, mit und ohne Besen.
Unterhaltung also. Ljubimow rahmt seine Faust-Revue von Zeilen aus dem Vorspiel vor dem Theater ein. Der Direktor steht am Bühnenrand und treibt auch zwischendurch an: "Besonders aber lasst genug geschehen! Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn!" Nur der Faust-Kenner findet in der Eile, mit der hier von Station zu Station gesprungen wird, seinen Stoff wieder. Alles kommt vor, der Pudel, der Osterspaziergang, Walpurgisnacht, die Erfindung des Papiergelds ..., aber tatsächlich erfährt man weniger über den Bildungsinhalt des Faust als über die Möglichkeiten des Theaters. Und eine ganz wesentliche dieser Möglichkeiten, so stellt Ljubimows Inszenierung heraus, ist: zu unterhalten. Spannend wird dieser Faust dadurch, dass die Inszenierung das nicht ins Kritische wendet, den Spaß nicht ironisch-hämisch gegen das Publikum kehrt - "Wir amüsieren uns zu Tode!" -, sondern sichtbar werden lässt, wie wenig und zugleich wie viel es dazu braucht, die Aufmerksamkeit zu fesseln: Eine ausgeklügelte Kulisse - ein Bett, ein Klavier, zwei Spannwände - und Schauspieler, die mühelos aus der Hauptrolle zurück in den Hintergrundchor rücken und zwischendurch noch Hand anlegen beim schnellen Bühnenumbau. Wie aus dem Nichts werden hier die einzelnen Stationen erschaffen. Ein Theater, das in der Form die Jagd nach dem glücklichen Moment abbildet. Zwischendurch glaubt man sich in einer Magiershow. Tatsächlich fliegt zum genau bestimmten Zeitpunkt eine Taube in die Höhe. Man kann Ljubimows "Theater-Theater" als altmodisch empfinden, muss aber zwangsläufig bewundern, mit welcher Risiko-Freude hier gespielt wird, wo alles, das Timing, das Licht, die Requisiten, in jeder Sekunde neu aufeinander abgestimmt gehört.
Der Russe Ljubimow beleiht von Goethe den Theaterspaß, der deutsche Alexander Lang holt sich von Gorki den Ernst. Denn Nachtasyl ist vor allem deshalb auch hierzulande ein Bühnenklassiker, weil es um den Ernstfall geht: den sozialen Abstieg. Unterhalten will Alexander Lang uns kaum, sehr wohl aber unsere Aufmerksamkeit fesseln. Und wie ihm das gelingt, ist ebenso ein kleines Theaterwunder. Denn auf den ersten Blick sind die gestrandeten Gestalten des Nachtasyls vor allem unsympathisch: Gekrümmte Körper, schmierige Haare und Kostüme, die den Talmi-Charakter und die schnelle Verderblichkeit von Billig-Waren abbilden. Die Prostituierte, die sich mit Kitschromanen tröstet, der prügelnde Mann, der bessere Zeiten gesehen hat, der alkoholkranke Exschauspieler, die habgierige Wirtin, ihr Liebhaber, der junge Schönling - sie alle werden nicht als des Mitleids werte Figuren inszeniert, sondern durch beherrscht artifizielles Spiel auf Abstand von solchen Regungen gehalten. Lang inszeniert keine Atmosphäre - dafür aber um so mehr Spannung.
Das Bühnenbild gemahnt an eine Mischung aus Baracke und Gefängnis. Jeder Zeitbezug scheint eliminiert; auf allzu deutliche Aktualisierungen wurde verzichtet. Es ist im wesentlichen ein Kunstgriff, ein typischer Theatertrick, durch den es gelingt, das Stück aus seiner festen sozialkritischen Verankerung zu reißen: Der Pilger Luka ist mit einer Frau besetzt. Wie Margarita Broich dieser Figur Gestalt verleiht, wirft in der Tat aus den eingetretenen Wahrnehmungsbahnen. Sie ist weniger eine Heuchlerin süßer Halbwahrheiten als eine Pragmatikerin des Modernen Lebens. Ist es nicht inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass positives Denken zu mehr Erfolg führt? In halbwarmen Ton, ohne ihnen allzu nahe zu treten, sagt sie ihren Mitbewohnern, was die jeweils hören wollen, spricht je nach dem vom süßen Jenseits oder vom rohstoffreichen Sibirien. Manchmal klingt es fast nach einer Parodie auf die heutige Ratgeberliteratur.
In einem faszinierenden Balanceakt führt die Schauspielerin die seltsame Klippe des Stücks vor Augen: Luka, die Figur, die eigentlich entlarvt werden soll, ist zugleich die attraktivste beziehungsweise die uns nächste. Weder die "Lügen! Lügen!"-Rufe des bitteren Bubnow (Silvio Hildebrandt), noch Satin (Uwe Eric Laufenberg), die von Gorki eigentlich zum Vorbild bestimmte Figur, können mit ihren weichen, anpassungsfähigen "Wahrheiten" konkurrieren. Sie sind der Stoff der Gegenwart. Als Luka verschwindet, ist es deshalb so, als verflüchtige sich die Aktualität aus der Inszenierung. Ratlos wagt Satin am Ende ein Tänzchen, aber er will uns damit nicht unterhalten.
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