Es sind die Siege einer Fußball-Mannschaft, die das Publikum begeistern, und nicht die Niederlagen. So manches Zuschauerherz wird sich dieser Tage durch den strahlenden Auftritt einer Mannschaft dazu bewegen lassen, ihr die Daumen zu drücken und auf einmal in ungeahnter Intensität mit ihr zu hoffen und zu bangen. Aber in den meisten Fällen - mit eigentlich nur einer Ausnahme: dem künftigen Europameister - wird schließlich auch diese Mannschaft in der nächsten Woche ein entscheidendes Match verlieren. Dann kommt die Stunde der Wahrheit; das frisch erwärmte Fan-Herz schmerzt auf unerwartete und nicht eingeplante Weise. Und man stellt fest: Über das Siegen ist alles gesagt, worüber man so gut wie nichts weiß, ist die Kunst des Scheiterns.
So ähnlich zumindest muss es auch dem Holländer Johan Kramer ergangen sein, als sich die niederländische Nationalelf vor zwei Jahren nicht für die Fußballweltmeisterschaft qualifiziert hatte. Sie seien sehr deprimiert gewesen deshalb, erzählt einer seiner Freunde zu Beginn des Dokumentarfilms The Other Final. Aber wie zur Therapie hätten sie begonnen, sich mehr und mehr für das Verlieren zu interessieren. Im Internet seien sie schließlich auf die Weltrangliste der Fifa gestoßen. Dort sind über 200 Nationalteams nach ihren Leistungen bewertet aufgelistet. Für die überwältigende Mehrheit davon gehört das Verlieren zum Alltag.
Im Jahr 2002 waren es die Länder Bhutan und Montserrat, die die letzten beiden Plätze der Fifa-Weltrangliste belegten. Nein, sie hätten zuerst auch nicht gewusst, wo auf dem Globus diese Staaten zu suchen seien, aber der Plan der holländischen Fußballfans war geboren: Sie wollten die beiden Mannschaften zur selben Zeit wie das "große" WM-Finale in Japan in einem "alternativen" Finale gegeneinander antreten lassen.
Wie und dank welcher Unterstützung es schließlich gelang, diese Begegnung tatsächlich statt finden zu lassen, spielt in Kramers Dokumentarfilm eine völlig untergeordnete Rolle. Man erfährt lediglich, wem man dafür nicht zu danken hat: Nike und Adidas, die Haupt-Sponsoren der damaligen WM-Finalisten Deutschland und Brasilien, zeigten keinerlei Interesse daran, ein Finale der Verlierer zu unterstützen. Dass The Other Final, und zwar sowohl das Spiel als auch dieser Dokumentarfilm darüber, doch zu Stande kam, ist deshalb an sich schon ein Sieg - keiner wie der von David über Goliath, denn die "Großen" traten ja gar nicht an, sondern etwas vielleicht noch Schöneres: Ein Triumph der "Kleinen" gegen die Unbedeutsamkeit, die mit dem Verliererstatus einhergeht, ein Heraustreten aus dem Schatten der Ignoranz und Nichtbeachtung, der das eigentlich Kränkende am Scheitern darstellt.
Um gut verlieren zu können, bedarf es des Humors, so viel wissen die meisten gerade noch. Die von ihrem holländischen Nationalteam enttäuschten Match-Initiatoren haben ihn, wie der Zuschauer sehr bald schon an der Montage des Films erkennt. Irgendwie ist es ja an sich schon ein Witz, ein solches "Endspiel der Schlechtesten". Doch Johan Kramer gelingt es in seinem Film, eine seltene Balance herzustellen zwischen Ernst und Ironie: Sein Interesse für die Verliererstaaten ist weder betulich noch herablassend. Und auf einmal wird deutlich, dass Humor keine Vorbedingung, sondern eine Folge des Scheiterns ist, etwas, das man beim Verlieren lernt, vielleicht lernen muss. So sind die Lebensbedingungen in Montserrat zum Beispiel unvergleichlich hart, in der Häufung der Unglücksfälle, die die dortige Fußballnationalelf erlebt, aber bleibt fast nichts anderes übrig, als darüber zu lachen.
Montserrat ist eine kleine Insel in der südlichen Karibik, die vor ein paar Jahren von einem verheerenden Vulkanausbruch heimgesucht wurde, der sämtliche Wirtschaftsgrundlagen der Insel vernichtete. Bhutan ist ein abgelegenes Königreich im Himalaya, so arm wie unabhängig; letzteres, wie ein Bhutanese im Film stolz anmerkt, seit Menschengedenken. Im Aufeinandertreffen von großen Hoffnungen und großen Unzulänglichkeiten - beide Mannschaften verlieren kurz vor dem Spiel ihre Trainer, die Mannschaft aus Montserrat hängt wegen schlechten Wetters in Kalkutta fest und wird dort krank - steckt auch ein Potenzial für Slapstick, dem der Filmemacher aber tapfer widerstanden hat. Bei allem Humor ist ihm anzumerken, dass mit dem Beobachten sein Respekt vor diesen Mannschaften und ihren Ländern stetig zunahm.
Die UNO hat 191 Mitglieder, der Weltfußballverband Fifa mittlerweile 205. Schon diese Zahl illustriert, dass Fußball einen bislang nur unzulänglich erhellten Beitrag zur Völkerzusammenführung leistet. Weshalb haben die meisten Länder es eiliger in die Fifa aufgenommen zu werden als in die UNO? Egal, welchen Ausgang das Spiel nehme, am Ende werden mehr Leute wissen, wo Bhutan liegt, begründet der Vorsitzende des dortigen Fußballverbands die Teilnahme am Projekt The Other Final. Erfolg und Niederlage, das sei nur die eine Seite des Sports, auch wenn sie meist im Vordergrund stehe, jenseits davon aber gäbe es noch den Aspekt von Frieden und Verständigung, und der sei letztlich das Wichtigere. Was bei den großen Sportereignissen meist bloße Rhetorik bleibt, dass nur das "Dabeisein" zähle, sieht man hier auf einmal verwirklicht: Fußball nicht als Kampf, sondern als symbolischen Akt der Liebe. "An opportunity to share our love of the game", wie es der Bhutanese auf den Punkt bringt.
Bei allen Gemeinsamkeiten in den schlechten Vorraussetzungen stehen sich mit Bhutan und Montserrat aber schließlich auch zwei sehr ungleiche Gegner gegenüber. In einer der schönsten Szenen des Films begrüßen sich die Verbandsvorsitzenden beider Seiten. Der große Mann aus der Karibik hält den kleinen verschmitzt lächelnden Asiaten im Arm und spricht in die Kamera: "My little friend here seems already very frightened ...". Da ist er, jener typische Humor der Underdogs, den Sieger anscheinend schnell wieder verlernen, sonst müssten sie für das Begleitprogramm der Europameisterschaft im Fernsehen nicht eigens Komiker engagieren.
Als Film hat The Other Final übrigens ein interessantes Problem: Die Idee allein ist so gut, dass sich das Angucken fast erübrigt. Das gewissenhaft gefilmte, aber eben auch sichtlich bescheidene Bildmaterial kann nicht ganz mithalten mit dem Interesse, das hier geweckt wird. Besonders die Aufnahmen des eigentlichen Spiels am Ende enttäuschen, zu sehr ist das Auge die professionellen Kameraführungen des Sportfernsehens gewöhnt. Für dieses Manko mag aber die im Film eingespielte Original-Moderation aus Bhutan entschädigen. Dem Sprecher ist sportliche Begeisterung und patriotisches Mitfiebern deutlich anzuhören; am ergreifendsten aber ist er in dem Moment, als er trotz des Triumphs der eigenen Mannschaft seinem tief empfundenen Mitgefühl für den gegnerischen Torhüter Ausdruck verleiht. "I have so much compassion for Mr. Blake!" Diese Kombination aus Emotion und Respekt sucht man bei den meisten unserer "großen" Sportmoderatoren vergeblich. Um dazu fähig zu sein, muss man wahrscheinlich mehr über das Scheitern wissen.
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