"Nächstes Jahr dann mit einem eigenen Kurzfilm!", rufen sich nicht selten die Besucher der Kurzfilmtage in Oberhausen zum Abschied zu. Was man als unbedingtes Lob auf das Festival zum einen und auf das Genre zum anderen verstehen muss. Nah dran zu sein am Puls der Zeit, an dem, was "auf den Nägeln brennt" und deshalb zur Tat inspiriert, dieses Gefühl zu vermitteln verstehen die Festivalmacher in ihren Themenschwerpunkten und Reihen jedes Jahr aufs Neue. Gängiges, wie etwa das aktuelle Interesse am Nahen Osten, wird dabei oft mit etwas eher Entlegenem, in diesem Jahr einer Retrospektive des amerikanischen Experimentalfilmers Robert Nelson, verbunden. Nicht selten allerdings dreht sich das Verhältnis von "entlegen" und "gängig" beim Sehen der Programme mehrfach um.
Zum Nachmachen verführt der Kurzfilm aber nicht nur wegen der Vielfalt seiner Genremöglichkeiten, sondern vor allem dadurch, dass das Kurzfilmmachen manchmal so verdammt einfach aussieht. In Me First - der in Oberhausen mehrfach ausgezeichnet wurde - nutzt der Kenianer William Owusu zu Beginn einen uralten Gag der Kinoprojektion: Er lässt die Aufnahmen des Straßenlebens in seiner Heimat rückwärts laufen. Mitten drin im Treiben aber sieht man ihn selbst scheinbar vorwärtsgehen. Wie macht er das?, fragt man sich unwillkürlich. Und entdeckt beim näheren Hinschauen die kleinen Manöver, mit denen der Held seine Technik unsichtbar machen will. Aus dem Off erzählt die Stimme des Regisseurs von einem Freund, der von einer Freundin verlassen wurde mit der Begründung, sie würde sich in mancherlei Hinsicht mit ihm unwohl fühlen. Gekränkt von der Vagheit dieser Angabe, sucht das männliche Ego verzweifelt nach konkreten Anhaltspunkten wie Größe des Körpers oder bestimmter Einzelteile. Von der Empörung über das Verhalten der Frau aber gelangt er bald zur Beschreibung eines allgemeinen Lebensgefühls des "aus dem Tritt seins". Wenn man am Ende wieder die Rückwärtssequenz sieht, in der unser Held in einer verkehrten Welt vorwärts läuft, ist aus dem Gag eine Metapher geworden. So einfach kann das mit der Technik sein, beziehungsweise so kompliziert.
Tatsächlich gibt es heutzutage kaum mehr eine Entschuldigung dafür, keinen Film zu machen; eine Videokamera hat schließlich jeder und das Schnittprogramm am Computer ist schnell gelernt. Die demokratische Verfügbarkeit der filmischen Produktionsmittel führt zu interessanten Verzerrungen: Technische Standards wie Farbe, Glätte, Ausleuchtung und Aussteuerung verlieren ihren Wert als Zeichen von Professionalität; der wahre Könner, beziehungsweise Künstler verwendet heutzutage bewusst das Amateurmaterial von einst: das zu starken Farbstichen neigende Super-8 etwa oder Musik von alten, leiernden Magnetbändern oder grobkörniges Schwarz-Weiß.
Auf letzteres greift zum Beispiel die Russin Alina Rudnitskaya in ihrem Dokfilm Civil Status zurück, der einen der Hauptpreise des Festivals erhielt. Die Regisseurin hat Szenen eines Standesamts in St. Petersburg zusammengetragen, wobei es ihr gelungen sein muss, sich während des Drehens nahezu unsichtbar zu machen, so intim ist der Einblick, den sie nimmt. Man sieht stoische Damen hinter Schreibtischen, die mit den immergleichen Mienen Todesscheine und Geburtszertifikate, Scheidungs- oder Hochzeitsurkunden ausstellen. Dazwischen gibt es Momentaufnahmen der feierlichen Trauungszeremonien, die wunderbare Schnappschüsse beinhalten: Einer Braut glüht vor Begeisterung das Gesicht, während neben ihr der Bräutigam unbehaglich, ja ängstlich den Mund verzieht. Mit feinem Sinn für Humor, ohne aber je die Gefilmten bloßzustellen oder der Lächerlichkeit preis zu geben, zeigt Rudnitskaya einen Kosmos der Normalität, wie man ihn nur noch selten sieht. Das altmodische Schwarzweiß des Filmmaterials setzt sich ab vom grellen Bunt des Reality-Fernsehens; zärtlich schützt es die Gefilmten, indem es ihre alltägliche Unförmigkeit und Hässlichkeit herunterspielt, sie "menschlich" erscheinen lässt.
An der Güte des technischen Ausgangsmaterials also ist gut von schlecht kaum mehr zu unterscheiden. Was im Film jedoch immer noch am meisten zählt, sind Entscheidungen wie die über die Position der Kamera. In Toi, Waguih hat der Franzose Namir Abdel Messeeh sie im Zimmer seines Vaters aufgestellt, um sich dann selbst ins Bild zu bewegen und das Gespräch zu beginnen. Sein Vater soll erzählen, wie das damals war, als er in Ägypten unter Nasser ins Gefängnis musste. Die Geschichte, die der Sohn hören will, ist jedoch eine andere als die, die der Vater erzählen mag. Und vor der scheinbar achtlos in die Ecke gestellten Kamera agieren Vater und Sohn, der Regisseur und sein "Objekt" und aus ihrer Interaktion ergibt sich eine vielschichtige Erzählung über Politisches und Privates, Familiäres und Gesellschaftliches. Der Vater, der nach dem Gefängnis schließlich ins Exil nach Frankreich ging, will nicht klagen und weist mehrfach darauf hin, dass es ihnen doch gelungen sei, zu leben wie "die Franzosen". "Ich und deine Mutter, wir haben uns eine Existenz zusammengekratzt", bekennt er an einer Stelle, und in der Handbewegung, die die Kamera des Sohns halb unterm Tisch einfängt, manifestiert sich ein ganzes Migrantenleben. Was sonst oft eitel wirkt, nämlich dass der Regisseur sich als Zuhörer selbst inszeniert, fügt hier dem Ganzen eine schöne Nuance hinzu: Da ist die Ähnlichkeit der beiden in Haltung und Körpersprache zu entdecken, man sieht die Ungeduld des Sohnes gegen die Sentimentalität des Vaters, die mehr der Erinnerung an das kleine Kind gilt als dem jungen Erwachsenen. Toi, Waguih ist ein kleines Meisterwerk mit psychologischem Tiefgang, das über das Vater-Sohn-Verhältnis hinaus auch den politischen Hintergrund der väterlichen Lebensgeschichte nicht vergisst.
Nicht zuletzt erweist sich eine gewisse Balance zwischen "privat" und "politisch" als wertvolles Kriterium, um die Amateure von den Künstlern zu unterscheiden. Als eine Reihe reiner "Privataufnahmen" könnte man etwa die Sammlung an Straßenszenen im chinesischen City Scene verstehen: Man sieht Menschen, die auf verwahrlostem Grund zwischen Plattenbauten Gymnastik machen, Hunde, die sich paaren, Männer, die sich prügeln, Passanten, die Fahrradfahrer zu Fall bringen, kurzum: ein bunter Mix aus alltäglicher Grobheit und großstädtischer Anonymität, aus pittoresken Beobachtungen und schwelender Gewalt. In der lakonischen Aneinanderreihung dieser "gefundenen Szenen" aber wird City Scene zum wortlosen Essay über den Umwälzungsprozess in China, bei dem sich manchmal nur schwer bestimmen lässt, ob hier etwas zerstört oder aufgebaut wird.
Was in City Scene dokumentarische Aufnahmen aus dem sich auf die olympischen Spiele vorbereitenden Peking, sind für Matthias Müller und Christoph Girardet die "found footage"-Szenen aus alten Filmen. Für ihren Film Kristall haben die beiden Stammgäste in Oberhausen Spiegelszenen aus klassischen Hollywoodfilmen herausgelesen und zu einer ergreifenden Sequenz montiert. Ohne Dialog und ohne Handlung entsteht daraus ein eigenes Melodram, das den emotionalen Überschwang der Originalbilder um- und überformt. Gleichzeitig aber funktioniert die Montage auch als quasi-wissenschaftliche Untersuchung, die sichtbar macht, was in den einzelnen Filmen verborgen blieb: Frauen vor dem Spiegel zupfen sich die Haare zurecht, überprüfen ihr Make-Up, perfektionieren ihre Maske, kurzum: erblicken ihre schöne Hülle. Männer dagegen, wenn sie in den Spiegel schauen, schauen in ihr Innerstes und erleben einen meist bitteren Moment der Wahrheit. Der stärkste Film, das führen Müller und Girardet mit ihrem Werk wunderbar vor Augen, ist eben immer noch der Film im eigenen Kopf.
Die Preisträger:
Großer Preis der Stadt Oberhausen an:
"N12°13.062´/W001°32.619´ Extended" von Vincent Meessen, Belgien/Burkina Faso 2005, 8,30 min.
Zwei Hauptpreise gleichberechtigt an:
"Toi, Waguih" von Namir Abdel Messeeh, Frankreich 2005, 28 min.
"Civil Status" von Alina Rudnitskaya, Russland 2005, 27 min
ARTE-Preis für einen europäischen Kurzfilm an:
"Casio, Seiko, Sheraton, Toyota, Mars" von Sean Snyder, Deutschland 2005, 13 min.
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