Berlinale-Benimm

Berliner Abende Seit es den Kinematographen gibt, macht man sich Gedanken über den schlechten Einfluss, den er auf seine Besucher ausübt. Nach über Hundert Jahren ...

Seit es den Kinematographen gibt, macht man sich Gedanken über den schlechten Einfluss, den er auf seine Besucher ausübt. Nach über Hundert Jahren ist immer noch nicht ganz erwiesen, ob gewalttätige Filme tatsächlich Gewalt verursachen, Kriegsfilme Lust auf Kriege machen oder Sexszenen die Jugend gefährden. Jedem Filmfestivalbesucher dürfte aber die Tatsache ins Auge springen, dass das Kino verheerend wirkt, was die guten Manieren des Publikums angeht.

Von den Handys wollen wir ja gar nicht reden. Schließlich klingeln sie heutzutage in fast jedem Film schon so häufig, dass das des Sitznachbarn kaum auffällt. Viele Filmhandlungen sind eigentlich ohne Handy gar nicht mehr vorstellbar. Und manche nicht mit, weshalb in den Filmen verdächtig oft Handys aus Autofenstern geworfen werden, damit der Held nachher nicht mehr telefonieren kann. Daran erkennt man die Fiktion, denn im wahren Leben halten die Menschen so sehr an den Dingern fest, dass sie selbst für eine normale Spielfilmdauer nicht darauf verzichten wollen, auf Empfang zu sein. "Stellen Sie Ihre Handys leise", fordern die Saalbetreuer der Berlinale denn auch inzwischen resigniert, da Ausschalten wohl zu viel verlangt wäre. Immerhin ist das hörbare Telefonieren während des Films eine inzwischen allgemein geächtete Handlung. Was man vom SMS-Schreiben leider nicht sagen kann.

Benimmtechnisch ungeklärtes Gebiet ist dagegen offenbar das vorzeitige Verlassen des Saales. Unterwegs zur rettenden Tür verlieren nämlich so einige regelmäßig die Hemmungen und greifen sprechend zum Mobiltelefon, bevor sie ganz hinaus sind. Damit muss er unmittelbar zusammenhängen, der Hang zu den schlechten Manieren: mit der schützenden Dunkelheit der Kinosäle, in der kleinere Vergehen unerkannt bleiben.

Wenn jemand beim Nägelkauen in der Dunkelheit nicht allzu viel Geräusche macht, mag das noch angehen, sehr viel schwerer zu ertragen ist da schon jemand, der die Fluchtbeleuchtung auf den Treppenstufen dazu nutzt, während des Films laut umblätternd Zeitung zu lesen. Anhand solcher Versuchsanordnungen lässt sich leicht ersehen, dass kein Film so viel Aggressionen auszulösen im Stande ist wie das auffällige Fehlverhalten eines Sitznachbarn.

Auch um zu erforschen, wozu Menschen in der Lage sind, wenn es um Revierverteidigung geht, muss man sich nicht auf die berüchtigten riskanten Autobahnen begeben, es genügt ein Gang zu den Filmfestspielen. Vor jedem Film wird hier aufs Neue heftig darüber gestritten, wie lange ein Platz frei gehalten werden darf und ob es zulässig ist, einen zusätzlichen Sitz für Garderobe, Handtasche und weitere wichtige Unterlagen zu beanspruchen, die man verständlicherweise nicht auf dem Fußboden abladen will.

Eine Haupttugend guten Benehmens bildet im übrigen ja die Pünktlichkeit. Obwohl auf jeder Eintrittskarte kategorisch vermeldet wird, dass zu spät Kommende keinen Einlass mehr finden, sind es die Pünktlichen, die im Kino stets das Nachsehen haben. Die Nachrücker treten ihnen nämlich im Dunklen auf die Zehen, versperren doch noch die sorgfältig ausgesuchte freie Sicht auf die Leinwand und geben durch minutenlanges Geraschel mit ihrer Überkleidung keine Ruhe. Damit nicht genug, sind es häufig auch noch die Zuspätkommer, die mit dem gleichen Lärm auch wieder vorzeitig das Kino verlassen.

Im Grunde habe ich für all diese flegelhaften Verhaltensweisen Verständnis. Denn vor allem unter einem hat der Berlinale-Besucher zu leiden: unter Zeitmangel. Die Zeit reicht kaum, um Filme zu gucken. Man hat aber auch genauso wenig Zeit dafür, sich zwischendurch mit anderen Menschen zu treffen, weil man stets unterwegs ist zum nächsten Film. "Wir sehen uns später!", ruft man Leuten zu, denen man dann doch erst im Jahr 2005 wieder begegnet. Und vor denen, die sich so nicht vertrösten lassen, verbirgt man sich besser gleich durch Zuspätkommen oder vorzeitiges Verlassen des Saales.

Wie mich überhaupt das ganze schlechte Benehmen um mich herum in den Kinos vor allem deshalb stört, weil es mich selbst zu eben jenen Verhaltensweisen verleitet, die mich an anderen zur Weißglut treiben können. Nicht nur, dass ich mich über murrende Pünktlich-Sitzer hinweg viel zu spät auf freie Plätze drängele, Einlasskontrolleure, die es allzu genau nehmen, laut abkanzle und die Fahrstuhltür keinem aufhalte, der nach mir kommt, weil ich es schließlich selber eilig habe. Nein, dem jungen Mann, der während des Films in der Notbeleuchtung der Treppe Zeitung las, bin ich doch mit Absicht beim vorzeitigen Verlassen des Saals auf seinen Lesestoff getreten. Und nachher doch ein wenig über mich selbst erschrocken.


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