Beziehungspflege

Dokumentarfilmfestival Leipzig 06 Von charismatischen Anführern und dem Charme fernsehsüchtiger Großtanten - dieses Jahr dominierten private Themen wie Tod und Familiensinn das Programm

Die Bilder des Massenselbstmords von Jonestown gingen 1978 um die Welt als Fanal gegen blinde Gefolgschaft und kollektiven Wahn. Sektengründer Jim Jones hatte Gift angeordnet und brav hatten es über 900 seiner Anhänger geschluckt. Gibt es eigentlich noch mehr darüber zu wissen? Gar ein Geheimnis zu lüften? Der Amerikaner Stanley Nelson geht davon aus und macht sich in seinem Dokumentarfilm Jonestown auf Spurensuche.

Nelson konnte ehemalige Mitglieder und Überlebende der schrecklichen Ereignisse für Interviews gewinnen und hatte Zugang zum Archivmaterial der Sekte. Konventionell - wogegen zunächst nichts zu sagen ist - montiert er die Zeugenaussagen zu einer chronologischen Erzählung über Aufstieg und Fall des charismatischen Jim Jones. Was als fortschrittliche, antirassistische Bewegung mit sozialistischen Einschlägen begann, endet in Verfolgungswahn und Massenpsychose. Man sieht viele Bilder von fröhlichen Menschen, die sich als bunte Gemeinde feiern, blonde Kinder neben älteren schwarzen Frauen, ein friedliches Miteinander der Generationen und Hautfarben. Die Zeitzeugen berichten vom Aufgehobensein in Arbeit und Engagement und davon, dass man für das Privileg des Dazugehörens Vieles ignorierte. Einige wussten, dass die in den Gottesdiensten vollzogenen Spontanheilungen inszeniert waren - und schwiegen. Andere wussten von sexuellem Missbrauch und martialischen Bestrafungszeremonien - und wehrten sich nicht. Immer mehr aber wurde die Außenwelt als feindlich wahrgenommen, deshalb die Flucht in den Dschungel von Guyana, ins selbst erbaute Jonestown, das als Paradies versprochen war und zur Hinrichtungsstätte fast der gesamten Sekte wurde, einschließlich Hunderter von Kindern. Am Ende des Films fragt man sich mit ganz anderer Intensität als am Anfang: Was ist da eigentlich passiert? Gibt es eine Gesetzmäßigkeit, die den Versuch, die Welt zu verbessern in Paranoia und Tyrannei umschlagen lässt? Hier zeigt sich der Nachteil der konventionellen Herangehensweise des Regisseurs: Er benutzt seine Zeitzeugen lediglich als Erzählbausteine, nach ihren retrospektiven Einsichten und Reflektionen aber scheint er nicht gefragt zu haben.

Einen charismatischen Führer bei der Arbeit beobachtet auch der holländische Regisseur Mark Verkerk in Buddhas lost children. Allerdings ist er dem buddhistischen Mönch, dessen Arbeit mit Jugendlichen er hier porträtiert, selbst ziemlich ergeben. Daran, dass der Mönch das Richtige tut, wenn er kleine Jungs zu sich nimmt, die entweder sowieso Waisen sind oder bei ihren Eltern sich nicht richtig entwickeln können, will der Film keinen Zweifel aufkommen lassen. Die Jungs scheinen sich wohl zu fühlen, wenn sie als kleine orange gekleidete Bettelmönche auf Ponys durch den thailändischen Dschungel reiten dürfen. Keiner wird hier gegen seinen Willen festgehalten, aber trotzdem haben für denjenigen, der gerade den Film Jonestown gesehen hat, die Bilder der friedlichen Gemeinschaft ihre Unschuld verloren. Man wünscht sich, der Filmemacher würde mehr Distanz wahren und wenigstens die kritische Frage stellen, warum hier die ganze Zeit von Kindern geredet wird, aber immer nur Jungs gemeint sind. Gibt es keine Mädchenwaisen?

Der Dokumentarfilm des Österreichers Florian Flicker schließlich, No Name City, lässt sich in diesem Zusammenhang als eine Art Gegenentwurf verstehen. Hier versucht ein wenig charismatischer, selbst proklamierter "Führer" erfolglos, eine Gemeinde um sich zu scharen. Armin Gross kommt als vom Besitzer bevollmächtigter "Hausmeister" in die Westernstadt No Name City, die als Erlebnispark in ökonomischen Schwierigkeiten steckt, und verspricht den ansässigen Ladenbesitzern und Betreibern, dass alles besser wird. Doch beim Cowboy- und Indianer-Spiel ist jeder mit so viel Leidenschaft dabei, dass es schnell zu Konflikten und unvorhersehbaren gruppendynamischen Prozessen kommt. Mit seiner Kamera gerät Florian Flicker zwischen die Fronten dieses Machtkampfes in der kleinen virtuellen Stadt, der abgesehen von Schießduellen große Ähnlichkeit haben mag mit dem, was sich real einst in Westernstädten abgespielt hat. Der Mann hinter der Kamera wird zum Vertrauten derer, die er filmt. Sie sprechen ihn an und zerren ihn ein paar Mal sogar mit ins Bild. Trotzdem wahrt Flicker stets die Distanz; er will nicht alles verstehen und mit ihm versteht auch der Zuschauer nicht immer, was sich da gruppendynamisch so abspielt. Um so spannender aber bleibt das Beobachten.

Die drei Filme sind ein gutes Beispiel dafür, wie die Machart die Aussage vorformt: Jonestown ist das klassische und deshalb fernsehkompatible Doku aus Archiv- und Interviewmaterial, temporeich zusammengeschnitten und immer darauf bedacht, den Zuschauer nicht durch Nachdenklichkeit zu langweilen. Buddhas lost children besteht aus wunderschönen Aufnahmen des Dschungel- und Lagerlebens, lässt sich aber trotzdem zu wenig Zeit, um seine Protagonisten jenseits von Interviews zu beobachten. Florian Flicker dagegen folgt in No Name City dem alten dokumentarischen Ethos und versucht mit seiner Kamera ein Stück Wirklichkeit einzufangen, ohne sie ins Korsett eines vorab geschriebenen Drehbuchs zu zwängen.

Tatsächlich sind solche Filme mit "offenem Ausgang" rar geworden. Sie haben es schwer, gefördert zu werden, denn diejenigen, die die Mittel bewilligen, wollen immer schon vorher wissen, wie der Dokumentarfilm "aussehen" wird. Deshalb wird auch die Beobachtung der Wirklichkeit mittlerweile als Drehbuch "gescripted", in dem bereits steht, was die Menschen nachher vor der Kamera sagen werden. Die Herangehensweise von Allan King, dem die Retrospektive in Leipzig gewidmet war, löst deshalb heute fast Befremden aus: Bei den Aufnahmen für seinen Film A Married Couple hat er stets den Raum verlassen - schließlich habe er filmen wollen, was zwischen den beiden Protagonisten passiert und nicht das, was die beiden ihm vorspielen wollten.

Soviel Mut zur Distanz scheint heute geradezu altmodisch und wird wenig honoriert. Was sich auch daran ablesen lässt, dass sich gleich zwei Filme den Hauptpreis in Leipzig teilten, in denen die Regisseure ihre eigene Familie porträtieren und dabei auch des öfteren selbst ins Bild treten - als müssten sie die eigene Involviertheit auch noch belegen. Für Exile Family Movie hat Arash T. Riahi Video-Material seiner Großfamilie aus verschiedenen Jahren und Anlässen zur gefühligen Feier des auch im Exil überlebenden Familiensinns zusammenmontiert. Seine Eltern sind in den siebziger Jahren aus dem Iran nach Österreich ausgereist, eine Tante hat es nach Amerika verschlagen, eine weitere später nach Kanada. Mit den im Iran Zurückgebliebenen trifft man sich einmal zu tränenreichen Umarmungen in Saudi-Arabien. Kokett entschuldigt sich der Regisseur aus dem Off dafür, dass sein Film vor allem aus diesen Wiedersehens-Tränen besteht. Der Zuschauer reibt sich gerührt ob so viel Rührung manches Mal die Augen - und vermisst unterm Strich doch die genaue Beobachtung dessen, was danach folgt. Die verschleierten Großtanten und ihre blond gefärbte Nichte - diskutieren die zum Beispiel über die Kopftuchfrage? Dass sich in der zweiten Generation nicht mehr Exil-Iraner, sondern bereits Amerikaner, Kanadier und Österreicher gegenüberstehen - ist das wirklich so wenig Anlass zur Auseinandersetzung?

Im zweiten Preisträgerfilm, The Cemetary Club, wird dagegen permanent gestritten. Die israelische Enkelin filmt ihre polnische Großmutter und deren Schwägerin, die in ständigem kleinlichen Zwist - "das war nicht im August, es war im September" - unlösbar miteinander verbunden sind. Beides Holocaust-Überlebende gehören sie einem Club von Alten an, die sich regelmäßig zum Picknick mit Kulturvortrag im Park bei Hertzls Grab treffen. Auch dort wird leidenschaftlich und nicht immer fair diskutiert. Diese Gruppenszenen bilden den eigentlichen Höhepunkt des Films, gerade weil die Regisseurin für den Moment die eigene Familiengeschichte zu vergessen scheint und mit stiller Bewunderung der Meinungsfreude und Argumentationswut der oft schon gebrechlichen alten Menschen folgt. Sie alle können, das erfährt man wie nebenbei, deutsch verstehen. Aber ob sie es auch wollen, steht in Frage.

Wie distanziert, ja fast kalt, man die eigene Familie auch betrachten kann, beweist die Finnin Sonja Linden in ihrem No Man is an Island: Sie filmt ihren Vater kommentarlos bei dessen Einsiedlerleben auf einer Insel. Nach und nach begreift man, dass er in seinen täglichen Verrichtungen für den Tag des eigenen Todes vorsorgt. Trotz wunderschöner Aufnahmen ist es ein zutiefst beunruhigender Film - wie viel Angst vor dem Tod mag jemand haben, der sich so sorgfältig darauf vorbereitet?

Die hohe Kunst des Dokumentarfilms, sie besteht darin, das richtige Maß zwischen Involviertsein und Distanz, zwischen persönlichem Interesse und abstraktem Erkenntnis-Streben zu finden. Was dabei herauskommen kann, wenn man einem Thema und weniger einem Drehbuch folgt, stellt Hedy Honigmann in ihrem Forever, dem schönsten Film des Festivals wie nebenbei unter Beweis: Sie hat sich mit der Kamera zum Père Lachaise- Friedhof in Paris begeben. Dort trifft sie auf junge Menschen, die nach dem Grab von Jim Morrison fragen und auf drei alte Frauen, die der Rummel dort gar nicht stört. "So werden wir stets Gesellschaft haben", zitiert eine Witwe ihren verstorbenen Mann, der ganz in der Nähe von Jim liegt. Honigmann entdeckt den Friedhof als Ort einer lebhaften Kommunikation mit Liebe und Verehrung als Medium der Verständigung zwischen den Welten von Diesseits und Jenseits.

Die holländische Regisseurin besitzt die seltene Gabe, das Vertrauen von Fremden zu erobern - ohne ihnen zu nahe zu treten. Am Grab des persischen Dichters Sadeq Hedayat überredet sie einen Exilanten dazu, ein paar Verse vorzusingen. Und der Zuschauer kann die wahre Größe des Poeten an der Art der Verehrung ablesen, die er erfährt. Auch an den Gräbern von Modigliani, Apollinaire oder Proust findet Honigmann Menschen, die durch ihre Hingabe an die Toten neues Interesse an deren Werken zu wecken im Stande sind. Doch geht es in Forever weniger um postume Heldenverehrung als vielmehr um die Beziehungen, die hier gepflegt werden und die aus den Gräbern weit in den Alltag der Menschen hineinreichen. So bleibt Honigmann mit ihrer Kamera auch nicht auf dem Friedhof, sondern folgt der Ingres-Expertin ins Museum, der japanischen Chopinverehrin in die Wohnung und dem Proust-Anhänger ins Zeichenatelier. Aber immer wieder kehrt sie zurück zum Père Lachaise, und findet dort eine weitere Stelle, an der die "Jim!"-Fans einen Hinweis hinterlassen haben. Fast wäre man damit wieder beim Thema Charisma und Gefolgschaft. Was dafür spricht, wie außerordentlich rund dieses Jahr das Programm des Dokumentarfilmfestivals in Leipzig war.


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