Bloß weg hier!

Streaming „Reservation Dogs“ ist ein Triumph für indigenes Filmerzählen in den USA. Was die Serie so gut macht
Ausgabe 42/2021

In Okern, Oklahoma ist nichts los. Nicht „Downtown“ und erst recht nicht im „Village“, wie die vier Teenager Bear (D’Pharaoh Woon-A-Tai), Elora Danan (Devery Jacobs), Cheese (Lane Factor) und Willie Jack (Paulina Alexis) ihr Viertel nennen. Wobei Viertel der falsche Ausdruck ist, weil das gemeinte Ensemble aus holprigen Straßen und heruntergekommenen oder nie zu Ende gebauten Gebäuden allenfalls die Urbanität einer Geisterstadt ausstrahlt. Die vier sind hier aufgewachsen und wollen nun, da sie sechzehn sind und Auto fahren können, nix wie weg. Nach Kalifornien! Nach Kalifornien! In Bears Jungszimmer hängt ein Plakat der Berge mit dem Hollywood-Schild, aber auch eins, auf dem steht: „I loved America before it was called America“. Bear und seine Freunde sind indigen.

Den Ort Okern, Oklahoma, und das Reservat drum herum haben die beiden Autorenfilmer Sterlin Harjo und Taika Waititi erfunden, aber die in der Serie Reservation Dogs mitgeteilten Erfahrungen sind authentisch, angefangen vom „Aufwachsen in tiefster Provinz“-Gefühl bis zu den Kränkungen und Zurücksetzungen als Angehörige indigener Nationen. Auch wenn diese auf unterschiedlichen Kontinenten vertrieben und enteignet wurden: Waititi kommt aus Neuseeland, sein Vater ist Maori; Harjo stammt von Seminole- und Muscogee-Völkern ab, Kindheit und Jugend verbrachte er in einem Reservat in Oklahoma.

Waititi, dem es mit Thor: Ragnarok gelungen ist, Elemente von Screwball-Comedy ins Marvel-Universum einzuschmuggeln, hat in seinem Film Boy (2010) schon einmal in wunderbar leichthändiger Weise vom Aufwachsen in eher depravierten Umständen erzählt. Insbesondere weiß er, welche Schlüsselrolle die Popkultur gerade dort spielt, wo sich die Jugend an den Rand gedrängt fühlt, oder es tatsächlich ist, wie eben im fiktiven Reservat von Okern, Oklahoma. Für Bear und seine Freunde gibt es hier weder eine Zukunftsperspektive noch sinnvolle Gegenwartsbeschäftigungen. Weshalb sie sich auf kleine Diebstähle verlegt haben: das Kupfer aus diversen Leitungen klauen, ein bisschen was in der Tankstelle mitgehen lassen – oder auch, wie in der ersten Folge der auf Disney+ zu streamenden Serie, einen ganzen, mit Chipstüten beladenen Lkw davonfahren, kaum dass der Fahrer um die Ecke ist. Aber so ganz abgehärtete Kriminelle sind sie eben doch noch nicht: Als sie durch Zufall mitbekommen, dass der Fahrer seinen Job verlor, ihm die Frau davongelaufen ist und er außerdem noch an Diabetes leidet, wollen sie ihm den Wagen wieder zurückbringen. Wobei sich herausstellt, dass ihre Vorstellung von der Welt eben doch noch recht kindlich geprägt ist.

Man kann die Serie allein schon aus identitätspolitischen Gründen feiern: Eine US-amerikanische Serie über Indigene, bei der „Native-Americans“ nicht nur die Mehrheit des Ensembles vor der Kamera stellen, sondern auch dahinter, das hat es so noch nicht gegeben. Dass die erste Staffel, die im August in den USA ausgestrahlt wurde, aus dem Stand heraus zum Kulthit wurde, erst recht nicht.

Mit Rap und Tarantino

Letzteres hat sicher damit zu tun, wie Waititi und Harjo in Reservation Dogs ihre Protagonisten als völlig durchschnittliche Jugendliche einführen, um dann mehr und mehr die Besonderheit, die Schwere auch, ihrer Situation vorzustellen. Man meint sie von Anfang zu kennen, diese Teenager mit Rap-Rhythmen auf den Lippen und in Tarantino-Verkleidung. Dann entdeckt man, dass sie sich hinter solchen Attitüden eher verstecken als wahre Gefühle ausdrücken. Spätestens ab Folge vier beginnt man den eigenartigen Kosmos zu begreifen, in dem sie aufwachsen, eine von abwesenden Eltern, toten Verwandten und verrückten Onkeln geprägte Welt, deren Traditionen ihnen wenig verlässlich erscheinen müssen.

Diese geringe Verlässlichkeit zeigt sich beispielhaft in jenem „Geisterkrieger“, der dem bei einem Paintball-Angriff zu Boden gegangenen Bear erscheint. „Bist du Crazy Horse? Oder Sitting ...?“, fragt Bear. Der Krieger schüttelt den Kopf, nein, er war kein „hohes Tier“, aber immerhin bei der Schlacht am Little Bighorn sei er dabei gewesen; er habe Custer in die Augen geblickt. Aber dann muss er bekennen, dass er nicht den Heldentod auf dem Schlachtfeld starb, sondern davor, bei einem dämlichen Reitunfall ... Soll man sich von einer solchen Witzfigur von einem Ahnen was sagen lassen? Bear sieht dazu erst mal wenig Grund.

Entgegen dem, was die erste Folge suggeriert, in der die „Rez Dogs“ in einen Gangfight geraten, stellt die Mehrheit der Folgen nicht ihr Verhältnis untereinander und auch nicht das zur Popkultur ins Zentrum, sondern das, was sie von den verschiedenen Erwachsenen um sich herum lernen können. Die Lektionen sind vielschichtig und nicht immer leicht zu erfassen: Es gibt den Stammes-Polizisten Big (Zahn McClarnon), von dessen prekärem Stand zwischen den Gesellschaften der kleine Cheese erfährt, als er ihn einen Tag als Praktikant begleitet. Eloras Onkel Brownie (Gary Farmer) hat sich so weit zurückgezogen, dass mit ihm kaum zu reden ist. Leon (Jon Proudstar), der Vater der selbstbewussten Willie Jack, versteht nicht, dass sie fortgehen will. Bears Mutter Rita (Sarah Podemski) weiß sehr wohl, dass sie ihren Sohn nicht länger vor den Enttäuschungen des Lebens bewahren kann.

Nach Ablauf der acht Folgen der ersten Staffel sieht man dieses Stück Provinz jedenfalls mit ganz anderen Augen: Statt Ödnis und Verfall unter ständig verhangenem Himmel erblickt man eine bis dato unbekannte, an Erfahrungen ungeheuer reiche Welt, in der Traumata und Humor hautnah beieinanderliegen.

Info

Reservation Dogs Sterlin Harjo, Taika Waititi USA 2021, Disney+

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