Coole Russen

Falsch platziert Zwei Romane nicht mehr junger Autoren, die nicht alt aussehen wollen

Um erfolglose Dichter mit Auftragsmördern und Huren, mit Mafiabossen und Werbefuzzis zusammenzubringen, wählte ein Autor früher Städte wie Chicago, Los Angeles oder New York. Heute lässt sich das Zusammentreffen dieser Leitfiguren der Massenkultur nirgendwo glaubhafter ansiedeln als im wilden Osten. Auf dem ehemaligen Territorium des realen Sozialismus überschlagen sich in nachholender Eile die frühkapitalistische Akkumulationsphase mit spätkapitalistischen Individualisierungsbestrebungen, kann man für nur 500 Dollar einen Auftragsmörder dingen, während "normales" Arbeiten keine sinnstiftende Option mehr darstellt. Es sei denn, junge Mütter mit Kind tauchen auf und verlangen nach Schutz - woraufhin der Prozess der Zivilisation neu beginnen kann. So jedenfalls stellt sich das Fabelmuster der russischen Gegenwartsliteratur dar nach der Lektüre der Romane Ein Freund des Verblichenen von Andrej Kurkow und Klick von Sergej Bolmat.

Beide Autoren haben die Vierzig bereits überschritten und gelten doch als die junge Hoffnung der russischen Literatur. Das hängt mit ihrer Erzählhaltung zusammen, die sich mehr an den Filmen von Quentin Tarantino oder Aki Kaurismäki als an Dostojewski zu orientieren scheint. Morde - und davon gibt es in beiden Büchern nicht eben wenige - sind hier lediglich "plotpoints", die eine bestimmte dramaturgische Funktion erfüllen, sie geben keinen Anlass zu moralischen oder auch nur politischen Reflexionen. In beiden Romanen steht im Mittelpunkt ein Alter Ego der Autoren, ein junger Mann mit humanistischer Ausbildung, mit der er nun, in den neuen Zeiten, nichts mehr anzufangen weiß. Kurkows Tolja und Bolmats Tjoma sind mit diesem Problem einerseits die würdigen Nachfolger der "überflüssigen Menschen" des 19. Jahrhunderts, andererseits streben sie nach etwas, was den Lieblingsgestalten der russischen Realisten kaum hätte ferner sein können - nach "Coolness". Und die ist nun mal seit sechzig Jahren Zeichen von Jugendkultur. Ebenso lange stellt sie dort einen Stein des Anstoßes dar: Für die einen Ausdruck einer barbarischen Gefühlsarmut, eines frivolen Genießens an moralischen Überschreitungen, für die anderen der Gegenentwurf zum bürgerlichen Kunsterleben mit seiner falschen Versöhnlichkeit. Die beiden russischen Romane, die das ursprünglich "westliche" Phänomen in sozusagen verfremdetem Kontext ansiedeln, regen dazu an, über die gegensätzlichen Bedeutungen von "Coolness" neu nachzudenken.

Wie Bolmat ist Kurkow - Ein Freund des Verblichenen ist nach Picknick auf dem Eis und Petrowitsch in kurzer Folge bereits sein dritter Roman, der bei uns erscheint - in St. Petersburg (damals Leningrad) geboren, lebt aber seit der Kindheit in Kiew, wo auch all seine Geschichten spielen. Die Wahl des Schauplatzes hat Einfluss auf das Erzähltempo: Während Bolmats Figuren in rasanten Verwicklungen durch ein hektisches Petersburg jagen, ist Kurkows Held Tolja meist zu Fuß in einer geruhsamen Stadt unterwegs und zeitweilig geht er am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus. Tolja ist nämlich lebensmüde. Seine Frau hat ihn verlassen, doch es ist nicht der Trennungsschmerz, der ihn den Tod herbeiwünschen lässt, es ist der gewöhnliche Verdruss: ohne Perspektive, ohne Job und ohne Geld in einer Welt zu leben, in der es "keine Freunde mehr, sondern nur noch Geschäftsbeziehungen" gibt. Der alte Schulfreund, der diese prägnante Analyse der menschlichen Bindungen zehn Jahre nach dem Untergang des Sozialismus liefert, offeriert ihm zugleich auch die Lösung für sein Problem: Dima kennt nämlich einen Auftragsmörder, der wegen momentaner Konjunkturschwäche Bestellungen zum Discount-Preis erledigt. In der Annahme, Tolja wolle den Liebhaber seiner Ex-Frau beiseite schaffen, verhandelt Dima mit Kostja, den Tolja dann auf sich selbst ansetzt.

Das ist der Stoff, aus dem schwarze Komödien gemacht sind, weshalb das Folgende selbst Menschen, die Kaurismäkis I hired a contract killer nicht gesehen haben, kaum überraschen dürfte: Kurz vor dem verabredeten Mord an sich selbst lernt Tolja ein Mädchen kennen und der Zufall will es, dass just zu der Stunde des anberaumten Rendezvous mit dem Killer das verabredete Café ausnahmsweise bereits früher schließt. Die Sache mit dem Mädchen entwickelt sich so gut, dass bei Tolja nach und nach das Bedürfnis erwacht, den Auftragskiller, der ihm auf die Spur kommt, wieder loszuwerden. Als Genrekenner wissen wir, dass in solchen Fällen die Stornierung des Auftrags selbst bei bereits erfolgter Zahlung nicht möglich ist - es herrscht die Faustische Logik der Geister, die man rief: der Killer muss seinerseits gekillt werden.

Das Absurde dieser Konstellation wendete der finnische Regisseur Kaurismäki nicht etwa ins existentiell Groteske, sondern er gewann daraus eine zarte Mischung aus Melancholie und Komik, und auch darin versucht Kurkow, es ihm nachzutun. Held Tolja ist ein liebenswerter, keineswegs kaltschnäuziger Versager, das Mädchen Lena, das als Vika auf den Strich geht, wird ebenso geschäftstüchtig wie warmherzig beschrieben und der Veteran, den Tolja schließlich mit dem Mord an seinem Killer beauftragt, geht erbarmungslos vor und träumt gleichzeitig den Traum sanftmütiger Männerfreiheit: In Ruhe fischen zu gehen.

Im Grunde sind sie also alle irgendwie "falsch" platziert in der Geschichte, und darin wird der Ausdruck eines Lebensgefühls erkennbar: ein Deplaziertsein im historischen Ablauf. Dass Tolja sich am Ende nicht nur zum Freund des Verblichenen stilisiert, sondern unmittelbar dessen Leben übernimmt, ist dafür ein starkes Bild, zumal Tolja dies ohne Schuldgefühle und wie durch die Umstände getrieben tut. Der Vorgang an sich hat etwas beängstigendes, der Schrecken wird allerdings abgemildert dadurch, dass die treibende Kraft von der jungen Witwe mit Kind ausgeht.

Die domestizierende Wirkung gebärender Frauen bildet auch in Bolmats Klick das Schlussbild. Hier ist es die zwanzigjährige Marina, die im neunten Monat schwanger ist, als Freund Tjoma aus einer Laune heraus ihr einfach ins Gesicht schlägt. Für die geplante Hochzeit ist das erst mal das Aus. Nunmehr getrennt, kreuzen beide - unfreiwilligerweise - den Weg diverser Auftragsmörder, um viele Leichen später vor einer Kirche wieder zusammen zu finden. Die Handlung verrät auch hier das filmische Vorbild, Pulp fiction, und da dürfen die Drogen nicht fehlen - es werden LSD-Trips eingeworfen, Pilze gegessen und Marihuana geraucht, was das Zeug hält. Der Rausch wird zur Erzählform.

Folglich schlägt man wie verkatert das Buch zu. An Tarantinos Pulp fiction begeisterte das souveräne Spiel mit den Genres, die raffinierte Zusammenstellung von im Grunde unvereinbaren Momenten, das gekonnte Vorführen der Techniken des "Sex and Crime", begleitet von Dialogen, die dem Geschehen die Spitze aufsetzten. An diese Meisterschaft, ein Genre zu benutzen und es gleichzeitig zu unterlaufen, reicht Bolmat nicht heran. Seine Figuren - wie etwa der Nietzsche-lesende Mafiaboss - wirken epigonal; es fehlt ihnen an Charakter.

Das mag auch daran liegen, dass Bolmat seine Energie ganz in die Beschreibung der Äußerlichkeiten investiert und jede Art von Psychologie außen vor lässt. Die Form des Erzählens ist spannender als der Inhalt. Einer Kamerafahrt gleich, die von der einen Person zur anderen schwenkt, ohne dass diese voneinander wüssten, wechselt der Roman mehrfach seinen Focus. Literarisch bewältigt Bolmat die raffiniertesten Film-Tricks: den Wechsel der Tiefenschärfe, das Replay, und sogar einen Digital-Effekt wie den Flug einer Kugel zuerst ins Ziel und wieder zurück und dann daneben. Man hat deutlich vor Augen: Bolmat ist ganz dem Action-Kino verpflichtet.

Dass die Figuren trotz des fesselnden Erzählstils nicht recht lebendig werden, liegt zum Teil auch an der hölzernen, in bestem Falle farblosen Übersetzung, die keinen der in verschiedenen Slangs gesprochenen Dialoge wirklich glaubhaft klingen lässt. Vor allem aber an ihrer angestrengten "Coolness". Nur über den Umweg der Interpretation lässt sich aus der geschilderten Abwesenheit jeglicher Gefühlsregungen inmitten der tödlichen Gewalt eine Haltung destillieren, die auch für den Leser Sinn macht. Die gewollte Unberührtheit, mit der Bolmats Helden aus ihren Abenteuern hervorgehen, ist so gesehen Ausdruck einer Sehnsucht nach Unverwundbarkeit und Unschuld - Eigenschaften, die weniger vom Kugelhagel als von der unsichtbaren Gewalt der gesellschaftlichen Transformation bedroht sind.

Sowohl bei Kurkow als auch bei Bolmat erfährt man also nur indirekt etwas über die Zustände in den postsowjetischen Gesellschaften und mehr über das entfremdete Wirklichkeitsgefühl der Schriftsteller. Wer mehr über die Welt des Verbrechens erfahren will, muss daher wohl zur "echten" pulp fiction aus der Feder der Damen Marinina oder Daschkowa greifen.

Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis. Roman. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Diogenes-Verlag, Zürich 2001, 287 S., 34,90 DM
Sergej Bolmat: Klick. Roman. Deutsch von Margret Fieseler. Verlag Kiepenheuer, Köln 2001, S., 23, 90 DM

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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