Die neuen Bösewichter kommen aus Osteuropa. Fernsehkrimis und Kino-Thriller sind zunehmend bevölkert von mörderischen Serben und erbarmungslosen Russen, deren kriminelle Energie allenfalls von ukrainischen Mädchenhändlern noch übertroffen wird. Während man sich im Bereich der Hochkultur mittels Ausstellungen und Gastspielen unermüdlich um Völkerverständigung und Feindbildabbau bemüht, kanalisiert die Massenkultur die Ängste vor diesen Fremden, indem sie sie in die Unterwelt verbannt und ihnen dort ein unansehnliches Gesicht gibt.
Man versuche an dieser Stelle einmal nicht den erlernten Reflexen der Ideologiekritik nachzugeben, nicht sofort Alarm zu schlagen und vor einem neuen Rassismus zu warnen. Sondern im Gegenteil sollte man die Gelegenheit nutzen und mit systemtheoretischer Coolness diese besondere Fähigkeit der Unterhaltungsindustrie betrachten, die, wenn auch über Klischees, immerhin Zugang zum Fremden verschafft. Anders nämlich als die das jeweilige Nationalerbe repräsentierende Hochkultur, die dem Identischen, der Reinheit huldigt, lässt die Massenkultur den Fremden eindringen ins Heimische. Es kommt zum Austausch, zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Kommunikation. Und wer weiß, über kurz oder lang hat sich noch jedes Klischee des widerwärtigen Bösewichts in das des charmanten Bad Guy verwandelt, und der ist dann schon der bessere Liebhaber. Zu Kalten-Kriegs-Zeiten gab es den einzeln agierenden russischen Bösen kaum, die Feinde waren stets entindividualisiert, im Räderwerk des ideologischen Apparats eingespannt. Der Einzug der Osteuropäer in die Unterwelt der Massenkultur bezeugt darum nicht zuletzt den Beginn einer individualisierten Wahrnehmung.
Die erfolgreiche Integration in die westliche Gesellschaft über den Umweg des Mafioso, so ließe sich grob auch der Lebensweg zusammenfassen, den Gary Shteyngart in seinem Handbuch für einen russischen Debütanten schildert. Wie der Autor selbst ist auch seine Hauptfigur Vladimir Girshkin als russischer Jude in Leningrad geboren und als Kind mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert. Shteyngart gelang mit seinem Debütroman auf Anhieb der Durchbruch zum amerikanischen Immigrantenschriftsteller; seine Hauptfigur muss da noch weitaus krummere Wege beschreiten, um in den Genuss gesellschaftlicher Anerkennung zu kommen. Während Vladimirs Mutter in den USA zur erfolgreichen Geschäftsfrau aufgestiegen ist und der Vater mit der betrügerischen Ausbeutung des amerikanischen Gesundheitssystems sein Auskommen gefunden hat, zeigt er, ausgestattet mit dem komplizierten Gepäck einer sowjetischer Kindheit und einer amerikanischer Jugend, zunächst überraschend wenig Ehrgeiz es seinen Eltern gleich zu tun. Orientierungslos, die eigene Verlorenheit aber als natürlichen Zustand begreifend, so wird er dem Leser auf den ersten Seiten des Romans vorgestellt. Er ist uns auf Anhieb sympathisch.
Vladimir nämlich hat zwar keine Lebensziele, aber Sehnsüchte. Nach und nach bringt sie der Autor mit erfindungsreicher, ironiegesättigter Fabulierkunst zum Vorschein. Vladimir macht die Bekanntschaft von Fran, Tochter einer typisch New Yorker Familie von Liberals, und es trägt ihn "hoch und über den wackligen Holzzaun, hinter dem die Verliebtheit gehalten wird und die Fettschicht des Herzens abweidet". Bald sieht er sich an Sohnes statt aufgenommen von der ganzen Familie; er reüssiert als bemitleideter und bewunderter Immigrant im Freundeskreis der Geliebten und gesteht sich ein, dass die Liebe etwas Überwältigendes ist, aber eben auch ganz einfach die Gelegenheit bietet, "ein Stück Originalamerika zu klauen, ein wenig Insiderwissen zu bunkern".
Nur leider kostet ihn die Eingliederung in das ganz normale New Yorker Upper Class Leben eine Menge Geld. Nicht nur die Generalüberholung seiner Garderobe, sondern die ganzen Ausgaben für "Retro-Lunches, Ethno-Brunches, Sushi Sake", dazu die Taxikosten, schlagen so schwer zu Buche, dass Vladimir auf der Suche nach Einkommen schließlich einen verhängnisvollen Fehler macht: Er lässt sich auf einen krummen Job ein. Noch bevor er den erfolgreich abwickeln kann, hat er einen mächtigen Mafiaboss auf den Fersen und muss schleunigst aus Amerika flüchten. So gerät er aus der Spur, gerade als er sich auf dem sicheren Weg in die Integration wähnte.
Der erste Teil des Handbuchs zeichnet ein liebevoll-vertracktes Bild von New York als weltoffener Stadt, in der Integration nicht zuletzt von der Fähigkeit, sie zu imitieren, abhängt. Die Kinder der ruling class, Fran und ihre Freunde, fühlen sich mit Anfang Zwanzig bereits ausgelutscht. Beim Flüchtling Vladimir wollen sie Originalität tanken und der lässt eigens für sie seinen russischen Akzent stärker hervortreten, nur um besser dazuzugehören. Aus ihrer Sicht ist sein "bodenständiger Bratkartoffel-Marxismus" unwiderstehlich; er dagegen fühlt sich angezogen von ihrem "sexy Postmodernismus". Erst das gegenseitige Missverstehen macht ihr Zusammensein möglich.
Aus dem vermeintlichen Aufgenommensein in New Yorks Upper West Side heraus verschlägt es Vladimir dann in eine mitteleuropäische Stadt namens Prawa, Hauptstadt der Stolowaken und allgemein beleumundet als das "Paris der Neunziger". Trotz "Stanislaus-Platz", "Emanuelbrücke" und "Taltava", erkennt der Leser darin das tschechische Prag, tatsächlich im letzten Jahrzehnt eine Anlaufstelle für Amerika-müde Jungamerikaner mit dem Traum, es Hemingway oder Gertrude Stein nachzumachen. Einer davon war Shteyngart selbst. Aus dem realen Prag die leicht ins Unwirkliche verzerrte Karikatur "Prawa" zu entwerfen, mag dem gleichen Bedürfnis entsprungen sein, das die progressive Jugend des Westens in der Mehrheit in diese Stadt geführt hat: das Bemühen um "die gute, alte Distanz".
Vladimirs Anlaufstelle in Prawa ist zunächst ein ukrainischer Mafioso mit dem Spitznamen "Murmeltier". Unter dessen Regentschaft entwickelt er plötzlich jenen Geschäftssinn, den seine Mutter bis dato an ihm so vermisst hat. Er entwirft ein Pyramidenschema, um die amerikanische Jugend in Prawa vom Vermögen ihrer Eltern zu trennen: "Wir geben ihnen das Gefühl, an der Auferstehung Osteuropas mitzuwirken!" Schon bald macht er sich auf, zwecks Vertrauensgewinnung die "Ex-Pat"-Kreise zu infiltrieren. Der Plan funktioniert: Mit dem Versprechen, eine Literaturzeitschrift zu begründen, steigt Vladimir binnen kurzem zum geachteten Mittelpunkt der Szene auf. Man buhlt um seine Gunst und so mancher träumt davon, Chefredakteur der neuen Zeitschrift zu werden.
Mit der Mafia auf der einen und der jugendlichen Boheme auf der anderen durchwandelt Vladimir von da an täglich nicht nur zwei verschiedene soziale, sondern auch literarische Welten. Die Mafiosi versuchen, wie große Geschäftsmänner des Westens aufzutreten - und fallen doch immer wieder in Manieren und Geschmacksfragen aus der Rolle. Die jungen Amerikaner imitieren ein Leben, das vor 50 Jahren en vogue war - auch sie sind darin zu Nachahmertum und Zweitklassigkeit verdammt. Und Vladimir ist wieder von einem "zusammengeschusterten Leben" ins nächste geraten. "Du bist bedürftig in dieser typisch ausländischen Weise, aber du hast auch all diese ... amerikanischen Eigenschaften", sagt ihm seine neue Geliebte auf den Kopf zu. Und während Vladimir nach Kräften sein "privilegiertes Wissen" aus Ost und West einsetzt, fühlt er doch gleichzeitig stets den Schmerz, dafür mit immer nur der halben Zugehörigkeit, der 50-prozentigen Identität zu bezahlen.
Handbuch für einen russischen Debütanten ist ein Roman über das Lebensgefühl des Dazwischenseins, ein Handbuch postmoderner Identitätspolitik, in dem der Ausdruck "Standing ovations" mit "Die Bolschewiken stürmen den Winterpalast" gesteigert wird. Locker folgt Shteyngart den ausgetretenen Mustern des Bildungsromans, mit dem entscheidenden Unterschied, dass sein Held auch sesshaft geworden immer Flüchtling bleibt.
Das eigentliche Abenteuer des Romans ist Shteyngarts vor Einfällen nur so strotzende Sprache. Fast hat man den Eindruck, dass das russische Immigrantenkind hier den vermeintlichen Mangel der Fremdsprache überkompensiert. Dieser Überschwänglichkeit verdankt der Leser eine Fülle an Beobachtungen, die zwar für die Handlung keine Bedeutung haben, aber um so mehr Shteyngarts scharfen Blick für bezeichnende Alltagsdetails beweisen: "Sein Lieblingszufall aus dem Kalten Krieg? Die unheimliche Ähnlichkeit zwischen dem Stil sowjetischer Architektur in den achtziger Jahren und den Pappkulissen von Raumschiff Enterprise1, der großen amerikanischen Kitschserie aus den Sechzigern."
Obwohl "eigentlich" amerikanisch, lässt sich in Shteyngarts Roman fast besser noch als in der russischen Gegenwartsliteratur die angespannte Geisteslage des heutigen Russland erkennen: zerrissen zwischen der Sehnsucht nach Verwestlichung, einem trotziger Hang zur Selbstbehauptung und der lähmenden Last einer unbewältigten Vergangenheit. "Crossover" ist das herausragende Phänomen der Gegenwart und der in Prag lebende russische Jude Vladimir mit amerikanischem Pass ein Held unserer Zeit.
Gary Shteyngart: Handbuch für den russischen Debütanten. Berlin Verlag. Berlin 2003. 496 S. 22,00 EUR
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