Das hohe Che

61. Filmfestspiele von Cannes Der Revolutionär als Leitmotiv: in einem eigensinnigen Film von Steven Soderbergh und auf den Körpern von Diego Maradona und Mike Tyson

Diego Maradona trägt Ernesto Che Guevara als Tattoo am rechten Oberarm. Es ist eine prominente Stelle am Körper des Fußballers, auch wenn er sein berühmtestes Tor mit dem linken Arm erzielt hat. Was er mit zunehmendem Alter immer weniger zu bereuen scheint. In Emir Kusturicas Dokumentarfilm Maradona by Kusturica zeigt er stolz seine Körperbemalungen und spricht davon, dass er sich beim Handtor gefühlt habe wie einer, der einem englischem Gentleman sein Portemonnaie aus der Tasche zieht.

Kusturicas Film ist weniger Dokumentation als vielmehr Heldenlied, in dem der serbische Regisseur den argentinischen Fußballer als Revolutionär besingt. Kusturica stellt sich nicht uneitel an die Seite seines Idols, zeigt dessen legendären Tore, unterlegt sie mit Musik der Sex Pistols und macht aus jedem Schuss eine Heldentat gegen Establishment und Imperialismus. Der Regisseur und sein Idol der Unterdrückten dieser Welt - sie wurden im Anschluss an den Film vom fein gekleideten Elite-Publikum in Cannes mit einer zehnminütigen Ovation gefeiert.

Auch der amerikanische Boxer Mike Tyson trägt ein Che-Tattoo und zwar an nicht minder prominenter Stelle: auf seiner linken Bauchseite. Wie Maradona war Tyson Protagonist eines Dokumentarfilms, der in Cannes vorgestellt wurde, und wie Maradona wurde er in einer Weise vom Kinopublikum gefeiert, die Filmregisseure hier nur selten erfahren: mit vorbehaltloser Euphorie. Tyson nannte der amerikanische Regisseur James Toback seine Dokumentation und hält, was der Titel verspricht: 90 Minuten sieht und hört man Tyson selbst sprechen mit seiner leicht brüchigen Stimme und einem Lispeln, das dem massigen Mann etwas sehr Verletzliches verleiht. Freimütig erzählt er von Siegen und Niederlagen. Sein Monolog wird zum Porträt eines zutiefst verunsicherten Mannes, der sich als Meister des K.o. sicher wähnte vor allen Demütigungen des Lebens, um dann als Star umso mehr gedemütigt zu werden - von der eigenen Ehefrau in einer TV-Talkshow, durch Gefängnis, Verlust des Weltmeistertitels, Bankrott und Drogensucht. Der Mann, dessen Namen für Aggressivität und Unerbittlichkeit im Ring steht, entpuppt sich als einer, der sich nie wirklich zu wehren wusste.

Passend zum großen medialen Gedenken an den Mai ´68, der in Frankreich noch größere Bedeutung hat als hier, war dank Tyson und Maradona Ernesto Che Guevara bereits zum heimlichen Leitmotiv des Festival geworden, noch bevor Steven Soderberghs heiß erwarteter Film über den argentinischen Revolutionär Premiere hatte. Es wurde zu einer jener Filmvorführungen, wie es sie nur in Cannes gibt: Festivalveteranen erzählten von 1979, als Francis Ford Coppola mit einer Work-in-progress-Fassung von Apocalypse Now ankam, die so später nie wieder jemand zu sehen bekam. Für Che könnte dereinst dasselbe gelten. Die Anspannung im Saal war mit Händen zu greifen, als der Film ohne Vorspann, ohne Titel, ohne Credits den Zuschauer mit den ersten Bildern in den Guerillakampf schickte. Fast fünf Stunden später, in der Pause waren Lunchpakte verteilt worden, war die Anspannung einer Ratlosigkeit gewichen, die nicht minder dicht im Raum stand.

Soderberghs Film war das zentrale Ereignis dieses Cannes-Jahres, auch wenn die große Mehrheit keinesfalls zufrieden den Saal verließ. Che lässt sich am besten durch das beschreiben, was nicht passiert: Der Film erzählt nicht die Lebensgeschichte von Ernesto Guevara, er zeigt nicht die wesentlichen Etappen des persönlichen Lebens im Kurzschluss mit denen des politischen Lebens, er schließt keine Kindheitstraumata mit späteren historischen Ereignissen zu einem Persönlichkeitsbild kurz. Keine Kussszene zwischen Che und seiner späteren Frau Aleida im Dschungel, aber auch keine Entlarvung des Idols als Robespierre der kubanischen Revolution. Darf ein Film, der so viel weglässt, viereinhalb Stunden dauern?

"Erklär ihnen, warum dieser Film keine Filmmomente" hat", forderte ein unterschwellig wütender Soderbergh bei der Pressekonferenz seinen Drehbuchschreiber auf. Die Antwort aber muss man natürlich im Film selbst finden. Tatsächlich liefert Che in seiner Beschränktheit einen Reichtum für die, die ihn lesen wollen. Im ersten Teil zeigt Soderbergh den gelingenden Guerillakampf auf Cuba. Die Partisanentruppe wird zur Schule der künftigen Nation, in der die revolutionären Tugenden geübt werden: die Bauern gut behandeln, für Bildung für alle sorgen, diszipliniert und mutig sein, sich mit Gerechtigkeit und Fairness durchsetzen. Wichtig sind die kleinen Dinge, und Soderbergh zeigt Che als einen, der Details wichtig nahm und deshalb zum Idol wurde. Dass der Guerillakrieg siegreich verlief, hat dabei geholfen. Am Ende des ersten Teils erlaubt sich Soderbergh ein wenig revolutionäre Euphorie, wo er ansonsten jeden pathetischen Moment vermeidet.

Das bisschen Revolutionsseligkeit wird im zweiten Teil gründlich zerstört. Dort zeigt er in erbarmungsloser Ausführlichkeit das Scheitern des Guerillakriegs, den Che nach Bolivien bringen wollte. Das ist kläglich, weil es wieder die Kleinigkeiten sind, die entscheiden. Das unwirtliche Klima, die durch "gute Behandlung" nicht überwindbare Ablehnung der Bauern, eine materielle und geistige Armut, die nicht der Revolution, sondern den autoritären Strukturen in die Hand spielt. "Schneide mich los", sagt Che am Ende zu seinem jungen Bewacher, der ihn voll Bewunderung ausfragt. Doch der erschrickt nur, dass dieser berühmte Mann so etwas von ihm verlangt - und geht vor die Tür.

Obwohl hochverdient und einstimmig, wie Jurypräsident Sean Penn sagte, erscheint die Auszeichnung als bester Schauspieler für Benicio del Toro als Che-Darsteller als magerer Trostpreis. Dabei wäre diesem eigensinnigen Werk, das ein echter Affront gegen Hollywood ist - die Länge, die Tatsache, dass er komplett in Spanisch gedreht ist, die Besetzung! - sehr zu wünschen, dass er unverstümmelt ins Kino kommt.

Bei allem Eigensinn nämlich verbindet Che etwas mit den Filmen, die dieses Jahr in Cannes am meisten Eindruck gemacht haben: Sowohl mit dem italienischen Gomorra, der den Grand Prix der Jury bekam, als auch mit dem mit der Goldenen Palme ausgezeichneten französischen Film Entre les murs. Alle drei Filme zeichnet der Wille zum nüchternen Realismus aus - ohne ästhetischen Firlefanz, aber mit Sinn fürs Differenzieren und Abneigung gegen das Glätten von Konflikten. Alle drei Filme interessieren sich für Details, erforschen spezifische Situationen und erlangen gerade dadurch universelle Geltung.

Mit Gomorra hat der italienische Regisseur Matteo Garrone das gleichnamige Reportagebuch von Roberto Saviano verfilmt, das in Italien zum Überraschungsbestseller geworden ist. Es ist ein unpathetischer und doch bedrückender Film geworden. Analog zu Savianos mutigem Buch beschreibt Garrone die Herrschaft der Camorra nicht als gewalt-glamouröse "Paten"-Geschichte, sondern von unten, aus der Perspektive der Angehörigen, Geldkuriere, Schwarzarbeiter und Jugendlichen, die dem Kreislauf von illegalen Drogen-, Waffen- und Müllhandel nicht entfliehen können, weil das "System" einen ganzen Landstrich erfasst hat. In diesem Dschungel gibt es keinen Widerstand und keinen Ausweg: nicht für die Jugendlichen, die zuerst aus Jux und Tollerei und dann zwangsweise mitspielen, nicht für den Geldkurier, der zwischen die Fronten verfeindeter Familien gerät, nicht für den Schneider, der in Schwarzarbeit so gute Arbeit leistet, dass seine Kleider von Stars auf den Roten Teppichen der Filmfestivals getragen werden.

Sich auf eine spezielle Situation einzulassen, sie zu erforschen statt sie in dramatischer Formelhaftigkeit darzustellen, das macht auch das Bestechende des Gewinner-Films aus. Entre les murs von Laurent Cantet zeigt Szenen aus einem Klassenzimmer an einer französischen Schule. Ein Meisterwerk des uneitlen Filmemachens: Ein Französischlehrer diskutiert mit seinen Schülern den "Subjonctif" der Vergangenheit. "Wer braucht denn das", protestieren die Schüler, die alle ein eigenes Idiom sprechen und aus China, Mali oder Marokko kommen. Eine bessere Antwort als: "Lernt den Gebrauch, um zwischen den Sprachniveaus wechseln zu können", findet auch der Lehrer nicht.

Wie Gomorra beruht Entre les murs auf einem Sachbuch, der gleichnamigen, autobiografischen Reportage von Francois Bégaudeau. Der Autor spielt im Film selbst den Lehrer, der die Gratwanderung zwischen Engagement und Überforderung bewältigen muss. Die Schüler bei Cantet sind Laiendarsteller, sie spielen sich jedoch nicht selbst, sondern haben ihre Rollen in einem halbjährigen Workshop erarbeitet. Das Ergebnis ist von einer Authentizität und Unmittelbarkeit, die den Zuschauer von der ersten Szene an gefangen nimmt. Gerade weil hier nichts beschönigt, nichts zugekleistert wird. Der Lehrer ist kein Superheld der Pädagogik, sondern er macht Fehler. Manchmal ist es ein Wort, das ihm herausrutscht, das zum radikalen Bruch führt: Eben noch hatte er freundliche Schüler vor sich, im nächsten Moment einen Haufen von Krawallmachern.

Das Klassenzimmer funktioniert ähnlich wie das Guerillacamp: Hier wird die Grundlage dessen gelegt, woran der Einzelne glaubt. Und zwar nicht durch den Lehrstoff selbst, sondern darüber, wie er vermittelt wird. Wie gerecht es dabei zugeht, wie gut und mit wie viel Respekt man sich gegenseitig behandelt, all das formt vom Klassenzimmer aus die Gesellschaft. Es sind die Details, auf die es ankommt.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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