Es gibt eigentlich nichts Spannenderes als Familiengeschichten. Erst recht, wenn sie sich über Jahrzehnte erstrecken und dabei reale Historie berühren. Mit dieser Selbstverständlichkeit des allseitigen Interesses sind jedoch die Erfolge von Marco Tullio Giordanas Die besten Jahre oder der deutschen Serie, mit der das italienische Werk am Häufigsten vergleichen wird, Edgar Reitz´ Heimat, nicht ausreichend erklärt. Dazu noch gelang Giordana im Kino, was vor über zehn Jahren Reitz nur im Fernsehen erreichte: Für eine verschworene Gemeinde von Zuschauern bildeten die 366 Minuten der Besten Jahre weit mehr als ein Sucht ähnlicher Zeitvertrieb, sie wurden zur echten Erfahrung.
Beiden Filmen ist zwar gemeinsam, dass sie allein durch ihre Länge schon eine Zuschauerbindung erzeugen: Wer sechs Stunden mit der Familie Carati und ihren Freunden verbracht hat, fühlt sich ihnen zwangsläufig nahe und sogar ein wenig verpflichtet. Darüber hinaus gibt es aber noch etwas, das sowohl Die besten Jahre als auch Heimat gewöhnlichen Familiensagas gegenüber auszeichnet: Man hat beim Betrachten das Gefühl etwas wieder zu erkennen, man identifiziert sich mit einzelnen Figuren, und gleichzeitig entdeckt man etwas Neues, Fremdes, etwas, das man so noch nie gesehen hat. In Giordanas Film geht es wie damals in Reitz´ Neuer Heimat um die Generation der 68er, und wie Reitz erzählt Giordana durch das für diese Generation "Typische" hindurch vor allem vom "Besonderen". Und es sind die Besonderheiten, die berühren und involvieren.
Auf den ersten Blick erscheinen die Brüder Matteo und Nicola also wie Prototypen ihrer Generation. Im Sommer 1966, dem Zeitpunkt, mit dem der Film einsetzt, stehen sie am Anfang ihres Studiums, sind aber noch völlig in die eigene Familie eingebunden; ein fürsorglich-patriarchalischer Vater erkundigt sich nach ihren "Hausaufgaben". Von unterschiedlichem Temperament - Nicola, der ältere, ist stets von scherzenden Freunden, der gut aussehende Matteo dagegen von der Aura des Außenseiters umgeben - teilen die Brüder eine Sehnsucht nach Aufbruch und neuen Erfahrungen. Mit Freunden wollen sie in den Ferien ins nördliche Europa aufbrechen; davor organisiert Matteo für sie die erste Bekanntschaft mit einer Prostituierten. Von ihr hört Nicola, dass sein Bruder Matteo "seltsam" sei. Aber da hat auch schon der Zuschauer über das Besondere, das Untypische dieser Brüder nachzudenken begonnen.
Denn so ähnlich ihre Ausgangslage in einem noch autoritätshörigen Italien ist, bewegen sich ihre Lebenswege bald in entgegengesetzte Richtungen. Während Nicola von seinem Medizinprofessor zur Rebellion aufgerufen wird, scheitert Matteo mit seinen unkonventionellen Antworten in der Literaturprüfung. Aber erst die nächste große Niederlage bringt die Brüder wirklich auseinander: Matteo jobbt als Betreuer in einer Nervenklinik; der Umgang mit der psychisch labilen Giorgia fällt ihm schwer, gerade weil die junge Frau ihn gleichzeitig fasziniert. Als er mitbekommt, dass sie mit Elektroschocks behandelt wird, entführt er sie aus der Klinik mit dem Ziel, sie zu ihrer Familie "nach Hause" zu bringen. Nicola verschiebt spontan seine Reisepläne und fährt mit. So nimmt eine kleine Odyssee ihren Anfang, auf der sich das Trio für wenige glückliche Momente in einem komplizierten Beziehungsgeflecht schüchternen Begehrens einrichtet. Doch dann wird Giorgia von der Polizei aufgegriffen. Dass sie diesen Ausgang nicht verhindern konnten, führt bei den Brüder zu unterschiedlichen Lebensentscheidungen: Nicola will Psychiatrie zu studieren; Matteo geht zum Militär.
Nicolas Lebensweg zeichnet im Weiteren eine italienische "linke Geschichte" nach: Reise nach Nordeuropa, Freiwilligenhilfe nach der Flutkatastrophe in Florenz, Studentenunruhen in Turin. Später beteiligt er sich an der Bewegung zur Öffnung der Psychiatrien; seine Lebensgefährtin Giulia geht irgendwann in den Untergrund zu den Brigade Rossi. Matteo dagegen steht auf der anderen Seite der Barrikaden, weil er nach dem Militärdienst Polizist wird und so vom Jeep aus in Turin Studenten jagt. Trotzdem liefert Matteo zur "linken" Biografie seines Bruders nicht einfach das "rechte" Gegenstück. Dazu ist sein Charakter zu rätselhaft und schwierig. Dem Schauspieler Alessio Boni gelingt ein faszinierendes Porträt eines Menschen, der sein Innenleben vor sich und der Welt verbirgt, ohne es selbst zu kennen, geschweige denn zu wissen, ob die bewahrten Geheimnisse den Preis der lebenslangen Isolation wirklich wert sind. Und nie verliert der Film aus dem Auge, dass auch im sich verhärtenden Polizist Matteo das "generationstypische" Verlangen nach Gerechtigkeit und einer besseren Welt zentrales Handlungsmotiv bleibt.
Verglichen mit Edgar Reitz´ Heimat, den Giordana als bewundertes Vorbild nennt, erscheinen Die besten Jahre zunächst konventioneller und "fernsehgerechter". Keine enigmatischen Schwarz-Weiß-Sequenzen lenken die Aufmerksamkeit aufs Formale und die Dramaturgie der Handlungsstränge nimmt einen völlig serientypischen Verlauf. Tatsächlich sind Die besten Jahre eine reine Fernsehproduktion, die eher zufällig ihren Weg zum Filmfestival nach Cannes und von dort in die Kinos fand. Was sich im Nachhinein als Glücksfall herausstellt, denn nur auf der großen Leinwand kommt zur vollen Geltung, was Die besten Jahre über jedes Fernsehspiel erhaben macht. Da ist die cineastische Fülle der kleinen charakteristischen Beobachtungen und vor allem das Ensemble der Darsteller, die ihren Figuren mit so viel Verve und Herzblut Gestalt verleihen, dass man gen Ende über das mühsam angeschminkte Altern - die Handlung endet mit der Jahrtausendwende - völlig hinwegsieht.
Mit dem Emblem "68" reduziere man eine ganze Generation auf die Ereignisse eines Jahres, sagt Regisseur Marco Tullio Giordana im Interview; ihm und seinen Drehbuchautoren sei es drauf angekommen zu zeigen, dass diese Generation ein Leben davor hatte, vor allem aber eines danach.
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