In Sachen Sex

Was läuft Über das aufklärerische Potenzial der Serie „Sex Education“. Spoiler-Anteil: 21%
Ausgabe 05/2019

Ist es Nostalgie? Oder Wunschdenken? Oder gar Häme? Warum schauen sich Erwachsene noch Filme über Teenager und ihr sogenanntes „Coming of Age“ an? In jedem Fall geht ein eigentümlicher Sog von diesen Geschichten über die „formativen“ Jahre aus. Besonders dann, wenn davon so gekonnt erzählt wird wie in der neuen Netflix-Serie Sex Education.

Der Titel ist dabei noch das Schlechteste: ein etwas doofer Versuch, Thema und Hauptort der Handlung zusammenzufassen. Sex Education spielt an einer Schule irgendwo in England und handelt vom 15-jährigen Otis (Asa Butterfield), der seine Mitschüler in Sachen Sex berät. Was ihn dazu „qualifiziert“, ist seine Sex-Therapeuten-Mutter (Gillian Anderson), von deren Sitzungen er sich einiges abgelauscht hat. Aber, und da beginnt auch schon das Schöne dieser Serie, Otis entpuppt sich nicht etwa als Scharlatan, sondern im Gegenteil, er zeigt echtes Talent beim Ansprechen intimer Probleme. Und mehr noch, er kann zuhören und sich einfühlen und findet für seine „Klienten“ ganz eigene Antworten, sei es für den Bully mit Orgasmusstörungen, für das Mädchen, das sich zu hässlich fühlt, um sich vor ihrem Freund nackt auszuziehen, oder die „Queen Bee“, die nicht weiß, wie Selbstbefriedigung geht.

Der Handlungsort ist bei genauer Betrachtung völlige Fantasie: Immer wieder schwebt die Kamera auf ein altehrwürdiges Schulgebäude zu, das wie verwunschen im Grünen steht; die meisten Elternhäuser der jugendlichen Helden sind pittoresk in die Landschaft eingebettete architektonische Kleinode. Einzig Maeve, das „Bad Girl“, lebt in einem Trailer-Park, aber selbst der ist von englischer Gemütlichkeit. Mit anderen Worten: In puncto Klassenverhältnisse nimmt die Serie es nicht so genau.

Auf den ersten Blick mag das stören, genauso wie das vage zeitliche Setting, das zunächst wie nach 60er-Jahre-Retro-Style aussieht. Aber dann gibt es doch Handys und das Internet, nur dass sie hier mal nicht so sehr im Vordergrund stehen, so unwahrscheinlich das auch sein mag. Je länger man schaut, desto besser begreift man, dass das Unrealistische hier gewollt ist – weil es Chancen der Darstellung eröffnet.

Nicht realistisch zu sein, ermöglicht es Sex Education zum Beispiel, ihr Ensemble so divers zu präsentieren, wie man es an einer „echten“ englischen Schule dieser „Klasse“ wohl nicht so leicht finden würde. Nicht nur dass Jackson (Kedar Williams-Stirling), der „Goldjunge“ der Schule, ihr beliebtester Mitschüler und Schwimmchampion, schwarz ist und dazu noch ein lesbisches Paar als Eltern hat, der beste Freund von Zentralheld Otis, Eric (Ncuti Gatwa), ist Spross einer religiösen nigerianischen Großfamilie, aber muss seine schwule Identität selbst vor den Eltern nicht verheimlichen. Man kann das „unwahrscheinlich“ finden, aber der Handlungsbogen, den die Drehbuchschreiber aus dieser Konstellation gewinnen, ist so berührend wie differenziert. Erst nach und nach begreift man nämlich, dass Erics Vater seinen flamboyanten Sohn nicht aus verquaster Homophobie danach fragt, ob er „immer so dick auftragen müsse“, sondern aus Sorge, dass er durch sein offen schwules Auftreten homophobe Attacken auf sich ziehen könnte. Und so „cheesy“ die Szene dann ist, in der der Vater umschaltet von Sorge auf Stolz, weil er einen Sohn hat, der sich eben nicht verbirgt und klein macht, so sehr ermutigt sie den Zuschauer dazu, genauer hinzuschauen. Individuen verhalten sich eben nicht immer so, wie man es von ihnen als Gruppe erwartet.

Etwas Ähnliches gilt für die Serie selbst und ihr Genre, besagtes „Coming of Age“. So wimmelt es in Sex Education von Versatzstücken aus bekannten Vorlagen wie den Filmen von John Hughes. Aber dann kommt da diese englische, dem amerikanischen Puritanismus völlig entgegengesetzte Lust zur Direktheit, ja Zotigkeit dazu. Sex Education ist erstaunlich explizit und ganz und gar nicht verschämt. Und selbst dieser Aspekt des „Unwahrscheinlichen“ wird für Differenzierung und Ermutigung genutzt. Als an einer Stelle doch das Thema digitales Mobbing auftaucht in Form eines intimen Fotos, durch das ein bestimmtes Mädchen beschämt werden soll, wird daraus bei einer Schulversammlung die Neuauflage von Kubricks Spartacus-Szene. „It is my vagina!“, ruft da ein Mädchen nach dem anderen und erhebt sich, und schließlich sogar ein Junge. Es ist gar nicht mehr lustig, sondern nur noch großartig.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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