Die Tränen, die man im Kino vergießt, empfindet man oft als erzwungen, hinterher vergisst man den Anlass erstaunlich schnell. Mit den besten Witzen verhält es sich allerdings ähnlich. Am nachhaltigsten beeindruckt der Schock, der Schrecken, die Angst. Nur vermeintlich teilen sich die Kinogänger in zwei Gruppen auf, in solche, die mit Horrorfilmen etwas anfangen können und solche, die nicht einsehen, warum sie ein Ticket kaufen sollten, um das Fürchten gelehrt zu bekommen. In Wahrheit nämlich hat jeder Kinobesucher in bester Erinnerung, welcher Film ihm einst die größte Angst bereitete.
Die Masse an Zuschauern, die sich vor den Turiner Kinos scharte, um die Filme der so genannten Masters of Horror zu sehen, fiel auf jeden Fall durch nichts anderes auf als durch ihre gute Laune. Vollkommen unaggressiv, zivilisiert und geduldig warteten sie Abend für Abend in winterlicher Kälte darauf, eingelassen zu werden. Horrorfilmfans, so der Augenschein, zeichnen sich durch größte Friedfertigkeit aus.
Oder macht das nur der Kontext? Das Turiner Filmfestival ist nämlich eines der raren Film-Veranstaltungen, die dem Kino so zugetan sind, dass sämtliche Standesunterschiede und Geschmacksgrenzen zum Verschwinden gebracht werden. Hier wird eine Kultur der Großzügigkeit zelebriert, die sich dezidiert als links versteht und vom Arbeiter-Dokumentarfilm über das sperrige iranische Kino bis zum neuesten Ballerstreifen aus Hongkong alles wichtig nimmt, was die Welt cineastisch zu bieten hat. Denn die Kinokultur an sich wird von hier aus als anti-establishment definiert. Und tatsächlich teilen das experimentelle independent cinema mit B-Movie-Routiniers wie Walter Hill, dem dieses Jahr eine Retrospektive gewidmet war, bei aller ästhetischen Gegensätzlichkeit genau das miteinander: ein gewisses Rebellentum gegen etablierte Konformität und Standesdünkel.
Auf diese Art freigesetzt entdeckt der enthusiasmierte Filmliebhaber Zusammenhänge, die vorher von Geschmackshierarchien verdeckt waren: Die Masters of Horror setzten das Thema und auf einmal fand sich Horror als wesentliches Element allüberall, in den düsteren Western Walter Hills genauso wie in den nur an der Oberfläche ironisch-sanften Filmen Claude Chabrols, dem die zweite große Werkschau gewidmet war. Mit seinen Studien der Bürgerlichkeit, in denen sich Menschen immer wieder zu vollkommen unnützen Verbrechen getrieben fühlen, die deshalb so unnütz sind, weil sie nichts ändern, sondern nur die Zustände verfestigen, erweist sich Chabrol nämlich als dem Titel master of horror mindestens ebenbürtig.
Horror im Kino ist ein Suchtstoff; das zeigen nicht zuletzt die Zuschauerzahlen der Filme, die oft fast ohne Werbung und mit nur wenig Aufmerksamkeit der Kritik ihr Publikum finden. Was macht den Reiz dieser Filme aus? Die Sehnsucht nach immer stärkeren Reizen? In John Carpenters Cigarette Burns erhält ein junger Kinoprogrammierer den Auftrag, nach der Kopie eines legendären Horrorfilms zu suchen. Die Legende spricht von nur einer öffentlichen Aufführung, bei der es im Publikum zu den schlimmsten Exzessen kam. Eindringliche Warnungen begleiten den Mann bei seinen Forschungen und doch kann er die Suche nicht aufgeben. Je "schrecklicher" der Film zu sein verspricht, desto mehr möchte er ihn sehen. Dabei ist er, keine Frage, ein durch und durch normaler und sympathischer Mann.
Dieses Paradox zwischen äußerer Nettigkeit und innerem Hang vertreten die nach Turin geladenen Masters of Horror-Regisseure denn auch leibhaftig. Witzig und so kinobegeistert wie ihr Publikum präsentierten sie sich auf dem Symposion, das begleitend stattfand. Die Reihe der Masters, 13 Filme im 60-Minuten-Format, wurde allerdings fürs Fernsehen produziert und wird außer Turin wohl kaum mehr eine Kinoaufführung erleben. Dass Horror in politisch aufgeregten Zeiten besonderen Zuspruch erhalte, postulierten die Meister, und als Dario Argento, der sich als giftiger alter Mann von der Bonhommie seiner amerikanischen Kollegen Joe Dante, John Landis, Don Cascarelli und Mick Garris wohltuend abhob, zu einer Schimpftirade über die Filmindustrie mit ihren Big Budget-Produktionen anhob und insbesondere gegen den Teenie-Horror-Film wetterte, der seine minderjährigen Zuschauer zwanghaft zum Lachen bringen müsse, da pflichteten ihm - kichernd - alle bei.
Tatsächlich lässt sich an Argentos Beitrag zur Reihe, Jenifer, bestens studieren, was den wahren Stoff ausmacht: Jenifer ist eine junge Frau mit wunderschönem Körper und blonder Mähne, die nur mit Lumpen bekleidet bereits eine sexuelle Energie ausstrahlt, die ihresgleichen sucht. Aber sobald die blonde Mähne aus dem Gesicht gestrichen wird, kommt der Schock: Sie hat ein völlig entstelltes Gesicht mit diabolischen Augen und einem widerlich verzerrten, nässendem Mund. In der ersten Szene will ein Mann sie grausam hinrichten, als ein zweiter ihr gerade noch rechtzeitig zu Hilfe kommt. Der Retter erschießt den Schlächter und nimmt sich der vermeintlich armen Kreatur an, die ihn mit ihrer zwiespältiger Ausstrahlung von körperlicher Hilflosigkeit und erotischer Macht alsbald so weit bringt, dass er sie selbst hinrichten will, aber wieder kommt im richtigen Moment der nächste Mann. Argento bringt beispielhaft zusammen, was den starken Reiz des Horror ausmacht, die Vermischung von Ekel und Erotik, von Sehnsucht und Abgestoßensein; er scheut dabei vor keinerlei Nachahmertum oder Selbstkopie zurück, vor allem aber: er ist absolut ernst.
Nach Jenifer begreift man denn auch eins: die gute Laune der Horrorfilmfans, sie speist sich bestimmt auch aus der Zufriedenheit des Überstanden-Habens. Ein Horrorfilm gleicht stets ein bisschen einer Prüfung; danach ist man noch mal davon gekommen.
Die emblematische Figur des Horrorfilms ist der Zombie, der "lebende Tote". Man muss im Grunde gar keinen Genrefilm gesehen haben, um dessen metaphorischen Gehalt zu entschlüsseln: Der Zombie ist das Sinnbild schlechthin für die Wiederkehr des Verdrängten.
Wenn in Joe Dantes Homecoming die Soldaten der USA sich aus den Gräbern erheben und an die Wahlurnen drängen, werden sie vom Publikum nicht zuletzt deshalb mehr belacht als gefürchtet: Man weiß schon zu gut, für was sie stehen. Homecoming ist denn auch mehr politische Satire als Horrorübung. Für seine Anti-Bush- und Anti-Irak-Kriegshaltung wurde er in Turin mit standing ovations bejubelt.
Der eigentliche Horror des Films liegt nämlich nicht in den verwesenden Leichen, die auf einmal durch die Straßen torkeln, sondern in den Einblicken ins politische Milieu, das Dante gibt. Der Wahlkampfberater und die rechtspopulistische Publizistin, die hier zum SM-Sex zusammenfinden, erweisen sich als furchteinflößender als jeder Zombie. Letztere sind, witzigerweise, nur dadurch "totzukriegen", dass man sie wählen lässt. Sie stimmen gegen den Präsidenten, aber werden ihre Votes auch richtig gezählt?
Die Politsatire enthält eine Schlüsselszene des Horrorgenres: Ein älterer Mann bittet einen im Regen taumelnden Zombie-Soldaten in sein Café. Die übrigen Gäste fliehen in Panik, er aber legt der lebenden Leiche eine Decke über die zitternden Schultern und fragt, was er für ihn tun kann. Von hinter dem Tresen kommt seine Frau hervor, die mühsam ihre Angst und ihren Ekel überwindet, um dem Soldaten die Hand zu geben. "Unser Sohn ist im Irak gefallen ..." Auf einmal begreift man, dass es bei den schockierenden Gestalten darum geht: Sie wollen etwas von uns, sie wollen gehört werden, wollen unsere Empathie und Fürsorge. Sich ihnen zu nähern, wo ginge das besser als im schützenden Dunkel des Kinos?
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