Das Wunder von Boston

Was läuft Barbara Schweizerhof hofft auf ein neues „The Wire“: „City on a Hill“. Spoiler-Anteil: 15%
Ausgabe 31/2019

Im deutschen Linearfernsehen ist sie noch die erdrückende Norm, anderswo gibt es sie nur noch als Nostalgie-Veranstaltung: die „Cop-Show“, eine Serie, die sich, um es mal ganz nüchtern auszudrücken, um Polizeiarbeit dreht. In ihrer abgeschmacktesten Form lösen witzelnde Kommissare Fälle, die unwahrscheinlich und unrealistisch sein müssen, um überhaupt noch Spannung zu erzeugen. In ihrer besten Form aber kann die „Cop-Show“ eine ganze Gesellschaft an ihrer Nahtstelle auf den Punkt bringen. David Simons The Wire ist das bis heute unerreichte, glorreiche Beispiel für Letzteres. Vordergründig eine Show über den langwierigen Kampf eines Polizei-Squads gegen die hydra-mäßig nachwachsenden Köpfe der Drogenmafia, in Wahrheit aber ein scharf beobachtetes Porträt einer amerikanischen Stadt und ihrer zivilen Institutionen zu Beginn des neuen Jahrtausends. Dass City on a Hill (ab 5. August auf Sky) statt für Baltimore der frühen nuller Jahre nun für das Boston der 90er ganz offenbar etwas Ähnliches versucht, nimmt allein wegen dieser Ambition schon ein.

Dabei fällt an City on a Hill als Erstes auf, dass die Serie sich Zeit lässt. Nach der Hälfte der zehn Folgen der ersten Staffel hat sich zwar eine Menge ereignet, aber man befindet sich immer noch im Einführungsmodus. Das ist kein Fehler, sondern Absicht, denn die Anzahl der Figuren, die es zu beobachten und zu begleiten gilt, ist beachtlich. Und tatsächlich ist bislang jede davon so interessant, dass man darauf auch Lust hat.

Im Zentrum steht ein echtes „odd couple“, ein ungleiches Paar von Gesetzesmännern, die zu Beginn unwillig, aber von den Umständen gezwungen einen Pakt der Zusammenarbeit eingehen. Die eine Seite bildet der junge schwarze Staatsanwalt Decourcey Ward (Aldis Hodge), der aus New York nach Boston kommt und unweigerlich von allen als „diversity hire“, als schwarzer Quotenmann, gesehen wird. Ward ist idealistisch, aber nicht naiv, von Ehrgeiz getrieben, aber Realist genug, um hinzunehmen, dass man ihn nicht mag. Und er weiß auch, dass ihm zunächst kaum etwas anderes übrig bleibt, als jemandem in die Quere zu kommen. In seinem Fall ist das der FBI-Veteran Jackie Rohr (Kevin Bacon in einer eckigen, grandiosen Altersrolle), ein Unsympath, wie er im Buche steht: einer, der in keiner Bar Bostons für seinen Drink bezahlt, seine Kollegen verächtlich und seine Spitzel demütigend behandelt. Und als sei dass noch nicht genug, betrügt er auch noch systematisch, soll heißen weniger lustvoll als pflichtschuldig, seine Ehefrau. Aber, und das macht die Figur und damit die ganze Serie so interessant, Rohr verhält sich zwar wie ein „Bad Cop“, aber gleichzeitig ist er gut in seinem Job, wenn er will, sogar verdammt gut. Und Ward, der für die Macho-Art seines irischstämmigen Kollegen genauso wenig übrig hat wie der umgekehrt für ihn als schwarzen Minderheitenrechtler, weiß Kompetenz, auch wenn sie leicht korrupt daherkommt, zu schätzen. Und so gehen die zwei ihren Pakt ein, letztlich weil beide dringend einen „win“ brauchen.

Um sie herum erschafft Show-Runner Charlie McLean einen gesellschaftlichen Kosmos, der zugleich die spezifischen Züge der Stadt Boston abbildet. Wards Frau Siobhan (Lauren E. Banks) versucht als Rechtsanwältin ein schwarzes Bürgerschaftsbündnis zu schmieden und gerät dabei in Konflikt mit einem Priester in ihrer Bewegung, den plötzlich immer mehr Frauen sexueller Übergriffigkeit anklagen. Rohrs von der Untreue ihres Mannes frustrierte Ehefrau (Jill Hennessy) wendet sich der katholischen Kirche zu – und muss erleben, dass ihr die Priester bei aller Wohlgesinntheit nicht helfen können. Und dann gibt es noch die andere Seite, die der Verbrecher: die Brüder Frankie und Jim Ryan (gespielt von Jonathan Tucker und Mark O’Brien) und ihre Familien und Spießgesellen.

Die Figuren sind fiktiv, aber der historische Background ist es nicht: Boston erlebte in den 90er Jahren ein sogenanntes Wunder, bei dem die Verbrechensrate auf einen Bruchteil reduziert wurde. City on a Hill erscheint als Serie deshalb so vielversprechend, weil durch die Vielzahl der Helden und das langsame Fortschreiten der Erzählung das Schlaglicht nicht auf einzelne Dramen und Heldentaten fällt, sondern das System in den Blick rückt: Jeder Einzelne handelt hier nach seinen Interessen und Bedürfnissen, woraus sich teils gewollte und teils ungewollte Synergien entwickeln.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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