Zigaretten, so hieß es einst in einer Anti-Raucher-Kampagne, seien der Tod auf Raten. Jedem Raucher haftet seither die Aura des Selbstmörders an. Jedoch hat noch keine Statistik erfasst, wieviel Selbstmorde durch das Rauchen einer Zigarette schon verhindert wurden. In den ersten Szenen der Unberührbaren sieht man Hannelore Elsner in der Rolle der Hanna Flanders am Telefon: "Ich leg' jetzt auf. Ich bring mich jetzt um," sagt sie. "Leg' noch nicht auf", entgegnet ihr der Freund am anderen Ende der Leitung, "Was tust du, rauchst du?". In der Tat hält Hanna Flanders zwei brennende Zigaretten gleichzeitig in der Hand und dazu noch das Gift-Fläschchen. Bis zum Schluss wird man sie in kaum einer Szene des gesamten Films je ohne Zigarette sehen. Schon in den kleinen Gesten dieser Sucht offenbart sich das prekäre Weltverhältnis der Figur: einerseits klammert sie sich an jede Zigarette neu wie an das Leben, andererseits hält sie sich die Außenwelt so auch auf Abstand. Als sie am Ende nicht mehr rauchen darf, ist dieses Verhältnis endgültig aus der Balance geraten. Oskar Roehlers Film Die Unberührbare ist alles andere als ein Film über Sucht, aber seine Stärke liegt in der zugleich liebevoll und schonungslos zu nennenden Genauigkeit, mit der hier ein ganzes Instrumentarium solch ambivalenter Verhaltensweisen gezeigt wird. Was man sieht, ist der sukzessive Zusammenbruch einer im Grunde starken Persönlichkeit, die letzten Stationen eines Weges in die Verzweiflung.
Dabei spielt Die Unberührbare in einer Zeit, in der ein historischer Zusammenbruch viele und große Hoffnungen keimen ließ. So gesehen war der Herbst 1989 ein europäischer Frühling. Die Figur der Hanna Flanders, wie sie in Roehlers Schwarz-Weiß-Film durch herbstlich öde Stadtlandschaften stakst, während die Medien den Freudentaumel übertragen, lässt an T. S. Eliots Poem Das wüsteLand denken: Wie besonders grausam ein Frühjahr empfunden werden kann, wenn totes Land Blüten treibt und Erinnerung mit Begehren neu durchmischt. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein grotesker Verfremdungseffekt, die freudigen Ereignisse des Mauerfalls durch eine Figur reflektiert zu sehen, deren Kommentar dazu lautet: "Jetzt, wo die Katastrophe perfekt ist ...". Zumal Hanna Flanders eine linke Schriftstellerin aus dem Westen ist, bei Dior einkaufen geht und aus großbürgerlichem Elternhause stammt.
Oskar Roehler hat die Figur der Hanna Flanders ganz dem Vorbild seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner nachgebildet. Aus dieser Konstellation heraus erwartet man eigentlich eine Art Abrechnung, die bittere Bilanz über die gescheiterten Ambitionen der 68er aus der Sicht einer jüngeren Generation. Aber Roehlers Film ist seltsamerweise zugleich weniger und mehr als das. Wie er das schafft, ist ein künstlerisches Geheimnis, offensichtlich und doch kaum ganz zu ergründen. Zum einen ist da das wunderbar ausgeleuchtete, kontrastreiche Schwarz-Weiß des Films, dem nichts von einer Übung in Stilisierungstechniken anhaftet. Es dramatisiert die Handlung und taucht gleichzeitig die Figuren in eine Art weiche Melancholie. Und zum anderen ist da die Schauspielerin Hannelore Elsner (mit Gisela Elsner weder verwandt noch verschwägert).
So oft man Hannelore Elsner auch schon gesehen haben mag, in Die Unberührbare ist es so, als würde man sie zum ersten Mal sehen. Ihr ist es zu verdanken, dass die Figur der Hanna Flanders im "Pharaonenlook", mit übergroßer scharzer Perücke, tief schwarz geschminkten Augen und Designer-Kleidern, niemals lächerlich erscheint. Hannelore Elsner spielt das Monströse dieser Gestalt herunter, und zu Tage tritt eine Verletzlichkeit, der eine Spur von Größenwahn anhaftet. Ihre Hanna Flanders leidet an der Welt auf übertriebene Weise, aber man glaubt es ihr. Niemand versteht es wie sie, das Verständnis der anderen entgegenzunehmen und niemand ist zugleich so darauf angewiesen. Unter anderen Umständen wäre sie eine vollendete Diva: eine Frau, die Menschen allein dadurch glücklich machen kann, indem sie sich von ihnen helfen lässt.
Roehler schickt seine Filmfigur auf Begegnungstour: An die Stelle des zu Beginn angedrohten Selbstmordes tritt ein überstürzt geplanter Umzug nach Berlin, aus dem sie nach einer ganzen Reihe enttäuschend verlaufender Treffen wieder flieht. Sie stattet ihren Eltern einen - für sie selbst - demütigenden Besuch ab und glaubt für einen Moment, bei ihrem Ex-Mann Geborgenheit finden zu können. Stets wird sie von den einen abgewiesen und von anderen wieder aufgefangen, die sie dann ihrerseits verlässt. Zwischendurch landet sie bei einer Familie in Ostberlin, wo man mit ihr auf die verheißungsvollen Entwicklungen anstoßen möchte. Verwundert nimmt man ihre Zurückhaltung zur Kenntnis. "Ich habe sehr unter den Verhältnissen im Westen gelitten", erklärt sie sich. Und so befremdlich sich das für die sie umgebenden Menschen auch anhört, so sehr zwingt auch den Zuschauer im Kino die eindringliche Darstellung dazu, das ernst zu nehmen und keineswegs mit Hohngelächter abzutun.
Denn weder der Regisseur Oskar Roehler noch die Schauspielerin Hannelore Elsner tun das, was irgendwie nahe lag und sicher gar nicht so einfach zu vermeiden war: ihre Figur der Entlarvung auszuliefern. So wird hier weniger gezeigt, wie eine Tochter aus gutem Hause ihre persönlichen Leiden mit denen der Gesellschaft verwechselt, um eigenes Versagen zu verdecken. Vielmehr wird vor Augen geführt, dass man sehr wohl persönlich unter gesellschaftlichen Verhältnissen leiden kann. Mag das auch eine fehlgeleitete Empfindsamkeit sein, Roehlers Film zeigt doch eine Art Respekt vor dieser Form von Radikalität. Und damit auch vor einer Haltung, die so häufig mit dem Adorno-Satz "Es gibt kein wahres Leben im falschen" etikettiert wurde. Hanna Flanders Tiraden gegen "Kulturfaschisten" und Wühltischkonsumenten wirken nicht nur deshalb abstrus, weil sie selbst bei Dior einkauft, sondern vor allem wegen der großen Einsamkeit, in die sich jemand mit solchen Äußerungen innerhalb einer Welt begibt, in der sich alle mit materiellem Wohlstand zufriedengeben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.