Weder Harry Potter noch Der Herr der Ringe, laut Eigenwerbung die "Filmereignisse des Jahres", werden es in den verbleibenden Tagen noch verändern können: Die einheimische Filmproduktion in Frankreich feiert für das Jahr 2001 ihren Marktanteil von knapp 50 Prozent. Was zunächst wie eine trockene Wirtschaftsnachricht klingt, ist in Wahrheit die Meldung eines Etappensiegs in einem lange währenden Kulturkampf - mit diesem in Europa einzigartigen Ergebnis hat Frankreich der mächtigen Hollywood-Industrie "die Stirn geboten", sie "in ihre Schranken verwiesen" und was dergleichen Schlachtmetaphern mehr sind. Neidvoll blickt derzeit das übrige Europa, wo die kulturelle Überfremdung sich in 80 bis 90-prozentigen Marktanteilen von Hollywoodproduktionen niederschlägt, aufs Hexagon und fragt sich, was man von Frankreich lernen könnte.
Der Widerstand gegen kulturimperialistische Bestrebungen aller Art gehört zur festen Selbstbeschreibung der kulturellen Identität der Franzosen, das wissen wir spätestens seit Asterix. "Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein!" lautet die berühmte Introduktion jedes einzelnen Bandes. Als noch niemand daran in den heute gängigen Formeln dachte, handelte Asterix bereits von der Rebellion gegen kulturelle Gleichschaltung und andere Nebeneffekte der "Globalisierung", bestand der spezifische Witz der Hefte doch darin, an der historischen "Antike" die Züge des Modernen bis zur Kenntlichkeit herauszuarbeiten - in gewisser Weise lieferte das Autorenpaar Uderzo/Goscinny die Dialektik der Aufklärung als Comicstrip. Die Römer sind die technokratischen Modernisierer, den gewachsenen Alltagsritualen entfremdet, während die Gallier stur an ihrer traditionellen Lebensart festhalten, was sie ihren Eroberern trotz militärischer Unterlegenheit so überlegen macht. Hier haben wir es bereits, das Bestehen auf "kulturelle Diversität", auf die eigenen Wurzeln und Gebräuche, auf die eigenen Stars (auch wenn man ihnen den Mund verbietet, jenes immergleiche Schicksal des Barden).
Es gelte, die kulturellen Unterschiede in Europa zu bewahren, die vom Gesetz des Marktes bedroht werden, von der Invasion von Kulturprodukten, die aus einer einzigen Quelle stammten - bekannte sich auch Premierminister Lionel Jospin im Mai anlässlich einer Rede zur "Zukunft des erweiterten Europa" ausdrücklich zum französischen System der Filmförderung. Die "eine Quelle" sind natürlich die USA, die die Welt mit ihrer Kulturproduktion überschwemmen und da die amerikanische Kultur aus europäischer Sicht mit Hollywood identifiziert wird - in keinem anderem Kulturprodukt lässt sich der american way of life so "attraktiv" abbilden und transportieren - ist das Kino zum exemplarischen Schauplatz des Kampfes um kulturelle Hegemonie geworden. Eine Tatsache, die nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wird dem Film doch vielerorts immer noch das kulturelle Prestige abgesprochen. Die Wichtigkeit, die das Kino in den Debatten um kulturelle Identität einnimmt, steht darüber hinaus auch in Widerspruch zu dem Platz, den der Kinobesuch bei den meisten erwachsenen Zuschauern in Europa einnimmt: In Deutschland sind das gerade mal knapp zwei Besuche pro Einwohner im Jahr.
Die beschworene Massenwirksamkeit des Kinos, von der noch jenes historische Leninzitat "Von allen Künsten ist das Kino die wichtigste für uns" zeugt, gehört also, selbst wenn man die Wiederverwertung von Filmen im Fernsehen hinzuzählt, eher der Vergangenheit an. Die gesamtgesellschaftliche Ergriffenheit durch "Jahresereignisse" wie Harry Potter hält sich deshalb auch deutlich in den Grenzen jener Serie von "Medienereignissen", die zwar kurzfristig allgegenwärtig scheinen, dann aber um so spurenloser verschwinden. Ungebrochen erweist sich hingegen die Aktualität des Adorno-Horkheimerschen Verdikts: "Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, dass sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen."
In diesem Sinne geht die Frontlinie "Europa gegen Hollywood" immer mit einer impliziten Wertehierarchie einher: Das gute europäische Kunstkino, neuerdings international auch "Arthaus" genannt, gegen die kommerziellen Industrie-Produkte von jenseits des Ozeans. Dass die europäische Qualität es seit Jahrzehnten versäumt, ihr Publikum zu überzeugen und zum massenhaften Besuch anzuregen, wird meist auf die Gesetze des Marktes geschoben, die stets dem Stärkeren zum Sieg verhelfen. Hollywood, so heißt es üblicherweise, müsse seine Zuschauer ja gar nicht mehr von der Qualität eines Filmes überzeugen (und braucht deshalb auch keine Kritiker mehr), sondern nur noch vom "Event", davon, dass man dabei gewesen sein müsse. Diese Art des Marketings macht den amerikanischen Werbestrategen allerdings kaum jemand so leicht nach, was auch für die Werbebudgets gilt, die man in dieser Höhe in Europa nie veranschlagen würde - nicht zuletzt weil sich von solchen Summen in Europa schon wieder ein Film machen ließe.
Mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln erreichte der französische Erfolgshit diesen Jahres, Die fabelhafte Welt der Amélie, diesen Effekt: Dem Film eilte der Ruf voraus, man müsse ihn gesehen haben, über neun Millionen Zuschauer in Frankreich folgten ihm; in Deutschland waren es immerhin noch über zwei Millionen, für einen französischen Film auf dem deutschen Markt ein mehr als passables Ergebnis.
Dass den Franzosen dieses Jahr nun gelang - die Jahreshitliste wird von vier französischen Filmen angeführt -, wovon andere europäische Länder nur träumen, dafür gibt es verschiedene Erklärungen: Manche versuchen die Triumphgefühle klein zu halten und weisen darauf hin, dass in diesem Jahr die amerikanische Konkurrenz besonders schwach war. Andere machen darauf aufmerksam, dass die vier Erfolgsfilme des Jahres - außer Amélie noch La verité si je mens - 2, Ein Mann sieht rosa und Der Pakt der Wölfe - ein bezeichnendes Licht auf den Mythos des europäischen Qualitätskinos werfen, handelt es sich doch einfach um gut gemachtes populäres Kino, so frankreichspezifisch im Inhalt wie universell, beziehungsweise "amerikanisch" in seiner Machart. Braucht man zum Schutze dieser Filmproduktion tatsächlich die vielbemühte "exception culturelle"?
Unter dem Etikett der "kulturellen Ausnahme" nämlich betreibt Frankreich seine protektionistische Filmförderung, die vor allem eine Wirtschaftsförderung für den eigens zum "Kulturgut" erklärten, "nationalen" Film ist. Eine spezielle Abgabe pro Kinokarte, die um einiges höher liegt als in Deutschland und die bindende Verpflichtung der Fernsehsender, prozentual zu ihrem Umsatz in die Filmproduktion zu investieren, führt dazu, dass in Frankreich die höchste Fördergeldmenge in Europa den Filmemachern zur Verfügung steht. Die "Bösen" der Branchen, sei es nun das Hollywoodspektakel im Kino oder Big Brother im Fernsehen, finanzieren auf diese Weise die einheimische Filmproduktion mit. In Frankreich einen Film zu machen, sei fast schon wieder zu einfach, kritisieren die Ökonomen - von den annähernd 150 jährlich produzierten französischen Filmen spielen nämlich in der Regel lediglich ein bis drei ihre Produktionskosten an der Kinokasse wieder ein.
Trotz dieser ökonomischen Verzerrungen hat Frankreich durch die geförderte Masse etwas, was die übrigen europäischen Länder schmerzlich vermissen: eine lebendige, ausdifferenzierte Filmlandschaft, in der junges anspruchsvolles Autorenkino neben handwerklich überzeugenden Kommerzfilmen steht und eine ganze Palette an Schauspielern, die unterschiedliches Publikum anziehen. Von den Erfolgen diesen Jahres aus gesehen, scheint auch das bis vor kurzem noch sehr Unwahrscheinliche möglich zu werden: Nämlich dass es am Ende wieder "echten" wirtschaftlichen Sinn machen könnte, Filme in Frankreich zu produzieren.
Dass in Deutschland der Trend in eine ganz andere Richtung geht, dafür steht schon die geschätzte Zahl von 1, 6 Milliarden Mark, die als Gewinn versprechende Investition von hier nach Hollywood fließen. Wenigstens einen Teil dieses Geldes zur Investition in deutsche Filme zurückzubringen, das hat sich der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Julian Nida-Rümelin, zur Aufgabe gesetzt. Sein im November vorgestelltes Filmpolitisches Konzept, das die Diskussionsgrundlage bildet für die 2003 anstehende Novellierung der Filmförderung, orientiert sich am französischen Modell: mehr Abgaben von Seiten der Kinobetreiber und vor allem der Sender sollen die Finanzierung von Großprojekten erleichtern, die wiederum Hollywood besser Konkurrenz machen können. Die Kinobetreiber und Fernsehsender - von denen die meisten ihren Spielfilmetat gerade erst radikal heruntergefahren haben - müssen für das Projekt allerdings erst noch erwärmt werden.
So sehr in dem Papier in bewährter Weise dem europäischen Kunstkino das Wort geredet wird, so sehr lassen sich hier die Leitlinien der Kulturförderung neuen Stils herauslesen: Gefördert werden soll in Zukunft vor allem der Erfolg. Für Kunst alleine, ganz ohne Publikum, Geld auszugeben, dafür gibt es heutzutage (fast) keine Legitimation mehr. Es gilt das Prinzip der "kriterienbezogenen Referenzförderung": Dem Punktesystem der Ärzte nicht unähnlich, werden künftig die Leistungen eines Films zusammengerechnet und in Euro dann für das nächste Projekt gutgeschrieben.
Aber mit Filmförderung alleine ist es nicht getan, denn woran mangelt es dem europäischen Film am meisten? An Publikum, das sich einfach immer wieder freiwillig für Hollywood entscheidet. Das war nicht immer so: Noch vor 20 Jahren hatte der französische Film in Deutschland etwa einen Marktanteil von 17 Prozent, inzwischen liegt er bei 1,7. Regisseure wie Volker Schlöndorff und Krzysztof Zanussi weisen immer wieder darauf hin, dass bis in die achtziger Jahre das europäische Kino noch über Regie-Autoritäten verfügte, auf deren neuen Werke ein breites Publikum durch alle europäischen Länder hindurch gespannt war. Heute sind es nur noch vereinzelte Namen und Filme wie Pedro Almodóvar und Roberto Benignis La vita e bella, die die dichten kulturellen Grenzen innerhalb Europas zu durchbrechen vermögen.
Immer wieder gibt es Umfragen, die belegen sollen, dass die Sache der "kulturellen Identität" nicht von "oben" diktiert wird, sondern einem Bedürfnis von "unten" nach Identifikation entspricht. Dass die deutschen Zuschauer deutsche Filme bevorzugen würden, so diese "Gleichwertiges" zu bieten hätten, wird zum Beispiel ermittelt. Dazu müssten die Filme hier mit einem ähnlichen Budget produziert werden. Um wirtschaftlich, das heißt mit Aussicht auf Erträge zu arbeiten, dazu sind die einzelnen nationalen Märkte in Europa aber nicht groß genug - und immer weniger gefällt in den Nachbarnländern das, was in einem Land produziert wird. Die wenigen europäischen Großprojekte, die für den gesamten Euro-Markt verkäuflich sein sollten, haben schnell das Negativimage des "Europuddings" hervorgebracht. Der europäische Film scheint ironischerweise genau an dem zu scheitern, zu dessen Bewahrung er sich berufen fühlt: der kulturellen Vielfalt in Europa.
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