Der feine Sinn fürs Rohe

Berlinale-Wettbewerb 2004 Die Suche nach dem Neuen verlangt den Einsturz der Konventionen - nach 18 Jahren gab es zum ersten Mal wieder einen Goldenen Bären für einen deutschen Film

Die Cinemax-Bar leerte sich bereits, als am Abend der Preisverleihung ein Mann mit einem Glas Bier in der Hand zu uns an den Tisch kam. Einige Minuten lauschte er mit ungeniertem Interesse unserem angeregten Gespräch, um es schließlich ziemlich rüde zu unterbrechen, indem er uns auf englisch gratulierte. Wir müssen sehr überrascht ausgesehen haben, denn er schob sogleich die Erklärung nach, ob wir es denn noch nicht wüssten, wir hätten die Berlinale gewonnen. Doch, doch, mühten wir uns den Vorwurf der Unwissenheit schnell auszuräumen, aber das würde uns gar nicht so sehr begeistern. Der Mann nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und schüttelte den Kopf: Immer diese Deutschen, zu keiner Freude fähig und zu keinem Nationalstolz. Er selbst, so stellte sich heraus, kam aus Dänemark und hatte Fatih Akins Film Gegen die Wand gar nicht gesehen. Trotzdem glaubte er fest daran, dass der Richtige den goldenen Bären bekommen habe, hatte er doch gehört, der Film behandle das wichtige Thema der Einwanderer in Europa. So jagte ein Missverständnis das nächste.

Das Schönste an Akins Film ist nämlich, dass er eben kein Thema - schon gar nicht das der Einwanderer nach Europa - behandelt, sondern eine Geschichte erzählt. Dazu noch eine Liebesgeschichte, und zwar eine von der Sorte - verhängnisvoll und unglücklich -, die kein anderes Medium mehr mit so viel Hingabe erzählen kann wie das Kino. In einem Wettbewerb, der ansonsten geradezu anti-cineastisch wirkte mit seiner übergroßen Neigung zur Milieubetrachtung, erfüllte Gegen die Wand schon allein deshalb ein echtes Bedürfnis.

Zwei Selbstmordkandidaten lässt Akin in seinem Film eine Zweckehe eingehen, deren "Zweck" in so hohem Grad paradox ist, das er magnetartig Ungeheures nach sich zieht: viel Liebe, viel Wut, viel Verzweiflung. Denn die Hamburger Türkin Sibel will den Hamburger Türken Cahit nur deshalb unbedingt heiraten, um den Zwängen von Ehe und Familie zu entkommen. Das Arrangement soll dazu dienen, die traditionellen Eltern zufrieden zu stellen, ihr selbst aber alle Freiheiten des Aus- und Fremdgehens zu lassen. Dazu muss die Scheinehe jedoch unbedingt Schein bleiben. Ihr "Entweder du heiratest mich oder ich bringe mich um!", mit dem sie den depressiven Cahit in die Ehe zwingt, ist um so bedrohlicher, weil die Liebe ja ausgeschlossen bleiben soll. Und als sie dann trotzdem auftaucht wie ein von beiden Seiten ungebetener Gast, werden sie nicht damit fertig.

Fast im Übermaß bedient sich Akin der starken Reize der Populärkultur: Sex, Blut und Gewalt. Eine macho-hafte Ablehnung des Kunstkinos steckt in diesem Regiestil; Akin möchte nicht für subtil gehalten werden. Seine Figuren treibt er gnadenlos in jeder Szene aufs Neue einem Ausbruch zu; kaum eine endet mit einer ruhigen Note; stets rennt jemand Türe schlagend hinaus, fängt an zu schreien oder greift zum Messer. Mal um Mal beschleunigt der Film von Null auf 200, was ihn auf der Länge von zwei Stunden eigenartig monoton und ermüdend macht.

Der demonstrative Wille zur Härte kommt auch in der Sprache zum Ausdruck. "Ficken" ist vielleicht kein echtes Tabuwort mehr, in der Wirkung jedoch mit einem scharfen Gewürz vergleichbar: Wer es ausspricht ohne mit der Wimper zu zucken, kann sich rühmen tapfer und furchtlos zu sein. Darum bemühen sich die Figuren in Gegen die Wand allerdings mit nervtötender Gleichförmigkeit; egal ob es sich um die blutjunge Sibel handelt ("Ich will mehr als nur einen Mann ficken") oder um den nicht mehr jungen Cahit ("Ich ficke nur Männer") oder die toughe Friseuse Maren ("Geht´s dir gut? Du fickst besser."). Von ähnlicher Unerbittlichkeit sind auch die aufmerksamkeitstechnisch gut verteilten Sexszenen des Films - Zärtlichkeit gehört offensichtlich auf Grund der schlichten Gleichsetzung mit Liebe zu den unzeigbaren Mysterien. Wer nur ein wenig innehält beim Mitfiebern mit den starken Gefühlen, der entdeckt hinter Akins Kraftkino allzu schnell eine Welt der großen Einfachheiten und schwachen dramaturgischen Begründungen.

Trotz dieser Einwände lässt sich die Entscheidung der Berlinale-Jury gut nachvollziehen. Wenn sie vielleicht auch auf einer verzerrten Perspektive beruht - man wollte wahrscheinlich einen Film auszeichnen, der so ähnlich wäre wie der von Fatih Akin, dessen Vitalität besäße, seine Begeisterung fürs Geschichtenerzählen und seinen Sinn fürs Rohe, aber mehr Stil und Form.

Letzteres, den Sinn fürs Rohe in der Kombination von Stil und Form findet man interessanterweise bei dem koreanischen Regisseur Kim Ki-duk, der für seinen Film Samaria mit dem silbernen Bären für beste Regie ausgezeichnet wurde. Kim Ki-duk versteht es, einen ungeheuer zärtlichen Blick auf die Brutalitäten dieser Welt zu werfen. In Samaria geht es um zwei befreundete Mädchen und einen Vater und schon wie der Fokus des Erzählens sich während des Films von der einen zur anderen und schließlich dem Mann hin verlagert, zeugt vom subtilen Erzählstil des Koreaners. Merkwürdige Tauschverhältnisse kennzeichnen die Beziehungen zwischen den Figuren: das eine Mädchen prostituiert sich, das andere spart das Geld für eine gemeinsame Reise nach Europa. Als die erste sich umbringt, will die zweite die Schuld sühnen, indem sie die Liste der Kunden noch einmal abarbeitet, ihnen aber diesmal nach dem Akt stets das Geld zurückgibt. Bis sie eines Tages von ihrem Vater dabei gesehen wird...

Samaria ist einer jener Filme, die durch die Überzeugungskraft ihrer Bilder den Zuschauer dazu bringen, einer Geschichte zu folgen, auch wenn er sie kaum glauben mag. Dabei ist es gerade das Unspektakuläre, ein billig gebautes Hotel, eine regnerische Flusslandschaft mit Kiesufern, das bei Kim Ki-Duk besonders spannend und beziehungsreich erscheint. Nie erschöpft sich hier der Blick im Offensichtlichen.

Früher gehörte auch der Grieche Theo Angelopoulos zu jenen Regisseuren, die den Zuschauer alleine durch seine Kameraführung in den Bann ziehen konnten. Dass ihm das in diesem Jahr mit Weeping meadow nicht gelang, in dem er in drei Stunden 50 Jahre Geschichte cineastisch aufbereitete, mag vielleicht mehr am veränderten Zeitgeist als an ihm selbst liegen. Denn Angelopoulos´ Film wurde mit ähnlichem Schulterzucken übergangen und als greisenhaft erstarrter Formalismus abgelehnt wie der doch ganz andere Film des französischen Altmeisters Eric Rohmer. Dessen Triple Agent handelt von Vorkommnissen im Paris der späten dreißiger Jahre. In endlosen Konversationen erfahren wir vom heiklen Spionage-Geschäft eines russischen Weißgardisten im Pariser Exil. Was Sprechen sagen soll, konnte schon immer kaum jemand so gut darstellen wie Rohmer; es ist bei ihm nie bloßes Gerede, sondern ein Medium der feinsten Komik und Tragik zugleich. Der Spion Woronin, von dem nicht einmal die eigene Frau wirklich weiß, für welche Seite er tätig ist, hat es in der Technik des Lügens schon so weit gebracht, dass er deren höchste Stufe anwenden kann: einfach die Wahrheit zu sagen. Zu selten nämlich glaubt jemand an sie, der Kapitalfehler einer ganzen Epoche.

Dem Zeitgeist von heute scheinen nicht nur die Altmeister Angelopoulos und Rohmer zu streng geworden; überall ist man auf der Suche nach dem Neuen und sucht es in den verschiedenen Formen von Nonchalance und Formlosigkeit. Auch scheint es nicht mehr auszureichen, gegen die Konventionen zu arbeiten, was die tumulthaft höhnischen Publikumsreaktionen auf Romuald Karmakars Film Die Nacht singt ihre Lieder zeigten. So wendete sich die Ablehnung gegen die eigentlich starke Seite des Films, seine formale Strenge, mit der hier die Zweierbeziehungshölle einmal nicht mit Abendessensritualen und Rotweinglas in der Hand aufgelöst wird, sondern blank nur in Gesichtern und Sätzen sichtbar gemacht wurde. Das Traurige ist nur, dass in dem zugrunde liegenden Theaterstück tatsächlich nichts passiert zwischen den Figuren - das Stück will schlauer sein als seine Figuren, eine Krankheit vieler Stücke, die "Diskurse" ausstellen wollen und der Tod alles Filmischen.

Das heiter-romantische Gegenstück zu Karmakars finsterem Zweisamkeits-Film bildete Richard Linklaters Fortsetzung seines Before Sunrise aus dem Jahre 1993. Damals verbrachten Ethan Hawke und Julie Delpy eine gesprächsfreudige Nacht miteinander; nach neun Jahren begegnen sie sich nun in Paris wieder. In Before Sunset haben die beiden Protagonsiten nun noch weniger Zeit: In knapp 90 Minuten soll Hawke am Flughafen sein. Sie gehen spazieren, kehren kurz in einem Café ein und machen eine kleine Bootstour auf der Seine; der ganze Film besteht nur aus dem Dialog zwischen den beiden. Im Unterschied zu Karmakars Gesprächshölle geschieht hier jedoch etwas zwischen den Figuren; auch wenn sie zwischendurch "nur" plappern, so finden sie doch Minute für Minute mehr über einander heraus.

Wie die Figuren bei Rohmer halten sie sich dabei recht streng an den konventionellen Redecodex - was kann man wann jemandem wie sagen, den man neun Jahre nicht gesehen hat? Erstaunlicherweise ist im Auf und Ab dieser heiklen Konversation, im abrupten Wechsel von Ernst zu Scherz, in den leicht dahin gesagten Wahrheiten und umständlich formulierten Ausreden fast alles drin, was das Kino an Dramen zu bieten hat. Und das ganz ohne F-Wort.


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