Nichts sei erfolgreicher als der Erfolg, behauptet eine Phrase aus der Business- und Motivationstrainerwelt. Was es damit auf sich hat, lässt sich gegenwärtig am Beispiel des Films Fluch der Karibik 2 bestens darlegen. Die Fortsetzung des Überraschungshits aus dem Jahr 2003 hat in den ersten zweieinhalb Wochen, in denen sie in den USA zu sehen war, bereits mehr Geld eingespielt als der erste Teil im Jahresendergebnis nach sechs Monaten Laufzeit. Die Box-Office-Statistik wartet mit weiteren Rekorden auf: Noch nie hat ein Film so schnell die 100, die 200 und die 300 Millionen-Dollar-Marke erreicht. Vom Eröffnungswochenende bis zu den besten Einnahmen an einem Nichtfeiertagsmontag, überall überbietet der Film die bisherigen Vorgaben. Und die amerikanischen Marktbeobachter scheinen nicht müde zu werden, sich unentwegt neue Kriterien (Nichtfeiertagsmontag!) auszudenken, um den Erfolg in Zahlen anschaulich zu machen. Denn der Erfolg an der Kasse ist nun mal die beste Reklame für einen Film. Weshalb einige auch bereits munkeln, angesichts dieser Zahlen könnte der Fluch der Karibik 2 den bisherigen erfolgreichsten Film aller Zeiten, Titanic aus dem Jahr 1997, bald überbieten.
Es gibt ihn zwar noch, den individualistischen Kinogänger, der sich für diese Zahlenspiele überhaupt nicht interessiert und der sich seine Filme nach Inhalt und Kritikerbewertungen aussucht. Die Mehrheit jedoch, und durch sie bekommt der Spruch vom erfolgreichen Erfolg seine Wirkungsmacht, begreift diese Rekorde als Motivation: Den erfolgreichsten Film des Jahres, des Jahrzehnts, aller Zeiten muss man doch einfach gesehen haben! So wird "Erfolg" zu einem Ereignis, an dem möglichst viele teilhaben wollen.
Der Film als solcher spielt da eine untergeordnete Rolle. Für Fluch der Karibik 2 haben sich die amerikanischen Kritiker nur wenig erwärmen können. Mit herablassender Nachsicht räumt der eine oder andere ein, dass der Film einiges an spektakulären Schauwerten zu bieten habe und purer "Popcorn-Spaß" wäre, soll heißen: Fast Food für die Sinne. Nicht wenige aber gingen recht hart mit dem Werk ins Gericht und bemängelten das schlechte Drehbuch, die unübersichtliche Figurenführung, überhaupt die mangelnde Originalität dieses zweiten Teils, der sich tatsächlich viel Mühe gibt, das bewährte Muster des ersten Teils zu wiederholen, ohne den Zuschauer durch Neuerfindungen zu verschrecken. Aber vieles wird durch Wiederholung nicht besser. Fast überall wurde die Überlänge von zweieinhalb Stunden Dauer als abschreckender Faktor benannt. Doch wie bereits dargelegt: Die Zuschauer sind alles andere als abgeschreckt. Und so dient Fluch der Karibik 2 auch als schlagkräftiger Beleg für die sich bereits seit längerem abzeichnende Entwicklung, dass dem Kritiker-Urteil im Kino immer weniger Bedeutung zukommt.
Das hatte sich bereits im Frühjahr gezeigt, als die Verfilmung des Dan Brown-Bestsellers DaVinci Code - Das Sakrileg trotz schärfster und einhelliger Verrisse in den Zeitungen die Zuschauer in Rekordscharen in die Kinos der ganzen Welt lockte. Dass Kritiker- und Publikumsurteil weit auseinanderliegen können, ist an sich kein neues Phänomen, die Geschichte der Filmkritik ist gepflastert mit Fehlurteilen, genauso wie mancher Film heute als großartig gilt, der bei seinem Kinostart ein Flop war. Nur selten sind Kritiker und Zuschauer einer Meinung und das meist nur retrospektiv. Neu scheint an der gegenwärtigen Entwicklung tatsächlich, dass die auf herkömmlichem Weg, also im "Printbereich" publizierten Kritiken zunehmend weniger Einfluss auf den "Ruf" eines Filmes haben, auf den "Buzz", den geschäftigen Lärm, der um ihn gemacht wird. Diese entscheidende Mundpropaganda, die die Menschen dazu animiert ins Kino zu gehen, wird mittlerweile anderswo kreiert: im Internet, in den Blogs und Foren und Newsletters. Dort nimmt der Alptraum des professionellen Kritiker Gestalt an: Heerscharen von selbst ernannten Experten tun sich keinen Zwang an, ausführlichst ihre Meinung zu äußern und diese zu verlinken und zu verschicken, wie´s ihnen beliebt. Und viele scheinen es zu lesen, nicht zuletzt vielleicht, weil sie sich darin besser wiedererkennen als im gepflegten Rezensionsdiskurs.
Längst versucht natürlich auch die Filmindustrie selbst, diesen neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen: Marketingbüros werden eingesetzt, um die Spontanreaktionen der User zu imitieren und so die Rezeption eines Filmes zu steuern und zu beeinflussen. Aber bislang schwört man im Netz noch auf die Kontrolle durch die "Massen", die sich einer solch gerichteten Beeinflussung durch massenhafte Wachsamkeit erwehren.
In vielerlei Hinsicht also steht Fluch der Karibik 2 für den allgemeinen Trend: für die Multiplikationskraft des Erfolgs, für das Auseinanderdriften der Meinungen von Publikum und Kritik und für die ausgeklügelten Strategien des Marketing, das heute oft schon ein Fünftel des Gesamtbudgets einer 200 Millionen-Dollar-Produktion ausmacht. In einer Richtung allerdings steht Fluch der Karibik ganz gegen den allgemeinen Trend: Das ist der des generellen Schwunds der Kinogänger, der sich über die letzten Jahre hinweg abzeichnet. Das Kinojahr 2005 galt weltweit als besorgniserregend schlecht, so dass neben der vermuteten mangelnden Qualität der Filme auch strukturelle Veränderungen in den Blick der Kulturindustrie-Strategen gerieten. Auch hier steht das Internet und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten an erster Stelle der Erklärungsversuche: Nicht nur durch die zahlreichen Gelegenheiten, legal und auch illegal an Filme heranzukommen, macht das Netz dem Kino Konkurrenz, sondern als eigenes Unterhaltungsmedium: Männliche Jugendliche zwischen 14 und 30, die einst den Hauptteil unter den Ticketkäufern bildeten, verbringen heute mehr und mehr Zeit vor dem Computer, beim Surfen und Spielen.
Für die Filmproduzenten ergibt sich daraus das Bestreben, sich auch im Bereich der Blockbuster, bislang eine klassische "Jungsdomäne", mehr um das weibliche und das ältere Publikum zu bemühen. Fluch der Karibik - und das dürfte als sein gar nicht so geheimes Geheimrezept gelten - hat diesen Crossover von Mädchen- und Jungsfilm im ersten Teil beispielhaft hinbekommen. Mit Johnny Depp und Orlando Bloom in den Hauptrollen wurde jeweils ein ausgesprochener Mädchenschwarm besetzt. Durch Gruselelemente und aufwändige Spezialeffekte sprach man die genrebegeisterten männlichen Zuschauer an. Mit Sinn für die wesentlichen Stilelemente des klassischen Piratenfilms und einer gehörigen Portion Selbstironie verwirklichte sich in Fluch der Karibik ein rundum gelungenes Konzept - dem der zweite Teil im Grunde nur sklavisch folgen will.
Vielleicht ja zu sklavisch. Nach dem Vorbild der Matrix- und der Herr der Ringe-Trilogie wurden Teil 2 und 3 des Karibik-Fluchs gleichzeitig gedreht. Teil 2 wirkt nun wie ein Mittelstück, von dem man noch nicht weiß, wie es einzupassen ist. Teil 3 auf jeden Fall, der nächstes Jahr in die Kinos kommt, ist für die Rekordlisten schon vorgemerkt.
Zum Schluss noch, wie es sich für den ausgemusterten Kritiker gehört, noch ein Unkenruf: Fluch der Karibik 2 oder auch 3 könnte also der erfolgreichste Film aller Zeiten werden - und damit vielleicht der letzte seiner Art. Denn zum einen entdeckt auch das nun frisch umworbene weibliche Zielpublikum das Internet zunehmend als Unterhaltungsmedium zur vollgültigen Freizeitgestaltung, was bedeutet, dass die Zahl der Kinogänger insgesamt weiter zurückgehen wird. Zum Zweiten geht derzeit das Gerücht um, dass es mit big media überhaupt bald vorbei sein wird, und damit auch mit dem großen, dem weltweiten Publikum. (Trotz des Riesenerfolgs von Fluch der Karibik sind die Aktien des Mutterkonzerns Disney gefallen). Die Zukunft, auch daran ist das Internet und seine vielfältigen Möglichkeiten der Individualisierung und Kunden-Feinabstimmung schuld, liegt in der Nische. Es wird, so die kühnen Voraussagen, mehr Vielfalt geben für ein jeweils kleineres Publikum.
Auf der Liste der erfolgreichsten Filme aller Zeiten stehen auf den vorderen Plätzen, auch nach Inflationsbereinigung, vor allem Filme aus den letzten zehn Jahren - die Star Wars-, Harry Potter- und Herr der Ringe-Mehrteiler, im übrigen trotz der vielbeklagten Video-und DVD-Piraterie weltweit. Über die Filme selbst sagt die Statistik wenig aus, wohl aber, dass sich das weltweite Marketing dieser Großprojekte immer weiter perfektioniert hat. Jedoch nicht immer funktioniert es, wie geplant: Weder Superman returns, noch X-Men 3, noch Mission Impossible 3 haben im ersten Halbjahr 2006 das erbracht, "was von ihnen erwartet wurde", wie man so schön sagt. Schon wurde das endgültige Ende des Blockbuster beschworen. Dank der Fluch der Karibik-Fortsetzungen zögert sich das noch einmal hinaus.
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