Der Rest wäre Schweigen

Jenseits von Sport und Spielen In Turin wurde der Europäische Theaterpreis an Harold Pinter vergeben, über die Notwendigkeit der Kritik diskutiert und über die Geschichte des italienischen Kommunismus nachgedacht

Man weiß nicht, soll man staunen, soll man müde abwinken, wenn man ein weiteres Mal entdeckt: Es ist überall dasselbe. Zum Beispiel, was die Theaterkritik anbelangt: In ganz Europa, so scheint es, ist sie bedroht. Ob in Polen oder Belgien, England oder Italien, überall schrumpft der Platz, den die Zeitungen der Theaterberichterstattung einräumen. Und der wenige, der übrig bleibt, soll verstärkt "Service-Charakter" haben, also weniger intellektuelle Reflexion beinhalten, sondern mehr "nützliche Information" für den Leser. Ob das Ende der Kritik gekommen sei, fragte man sich deshalb auf der Versammlung der europäischen Theaterkritik in Turin, wo die Zunft die Gelegenheit der Verleihung des europäischen Theaterpreises an Harold Pinter zur Zusammenkunft nutzte. Das vorhersagbare Ende der Diskussion lautete selbstverständlich: Nein, die Theaterkritik ist nicht am Ende, sondern wird dringender denn je gebraucht.

Zum Beispiel um zu beschreiben, was sich in diesen Tagen in Turin zutrug. Dort durfte das Theater einmal von seinem ewigen dramatischen Konkurrenten, dem Sport profitieren. Im Schlepptau der Olympischen Winterspiele fand sich in Turin das Geld, um den seit fünf Jahren auf Eis gelegten europäischen Theaterpreis wiederzubeleben. Vor 20 Jahren gegründet, hatte man sich bis dahin neunmal in Taormina getroffen, um mit Preisträgern wie Ariane Mnouchkine, Giorgio Strehler, oder Heiner Müller zu feiern und gleichzeitig deren Werke in kritischen Augenschein zu nehmen. Diese Tradition konnte in Turin nicht ganz in derselben Pracht wieder aufgenommen werden. Zwar waren die diesjährigen Preisträger alle gekommen, was besonders im Fall von Hauptpreisträger Harold Pinter erfreute - und im Übrigen die ganze Stadt mit Stolz erfüllte nach dem Motto: in Stockholm war er nicht, aber bei uns! -, jedoch war wenig von deren Werken zu sehen. Der ungarisch-stämmige Franzose Josef Nadj, der als Innovator ausgezeichnet wurde, hatte nur ein paar Videoschnipsel seiner choreografischen Versuche dabei. Zu Harold Pinter gab es zwar eine Vielzahl an Vorträgen, aber lediglich zwei Bühnenfassungen seiner Texte und beides waren Kompilationen. Vom zweiten Preisträger für theatrales Neuland, dem Litauer Oskaras Korsunovas immerhin wurden zwei "vollgültige" Inszenierungen aufgeführt.

Für den schmerzlichen Mangel an theatralischen Erlebnissen, zum einen bedingt durch Sparzwänge und zum anderen durch die kuriose Tatsache, dass die Preisträger bereits vor fünf Jahren bestimmt worden waren, hatte man in Turin jedoch eine geschickte Lösung gefunden: Das vom einstigen Preisträger Luca Ronconi als Kulturprogramm für die Olympischen Spiele inszenierte Projekt Domani (Morgen). In fünf (den olympischen Ringen entsprechenden) Aufführungen auf verschiedenen Bühnen Turins setzt sich Ronconi darin mit Krieg und Frieden, Vergangenheit und Gegenwart, dem Stand der Kunst und des Alltags in Italien auseinander.

Wer ein Renommierprojekt erwartet hatte, das vor allem im Hinblick auf ein internationales Publikum gestaltet worden wäre, wurde enttäuscht. Ronconi hat den Mut besessen, entgegen dem Rahmen "Olympia", der auf Unterhaltung und Leichtigkeit zu verpflichten scheint, ganz bei seinen Eigentümlichkeiten zu bleiben, was in diesem Fall heißt: Bei seinem präzisen Arbeiten mit dem, was immer noch die wichtigste Ressource des Theaters bildet - die gesprochene Sprache. Der des Italienischen nicht mächtige Zuschauer bekommt ein Palmtop in die Hand gedrückt, und fühlt sich größtenteils ausgeschlossen, weil er dazu verurteilt ist, die Aufmerksamkeit statt auf die Bühne auf den Minicomputer in seiner Hand zu richten. Was ihm allerdings nicht entgeht, ist die selten große Konzentration, mit der das Publikum um ihn herum die Inszenierung verfolgt.

Zum Beispiel bei Il Silenzio dei Communisti (Das Schweigen der Kommunisten), das dazu noch gar kein Stück, sondern einen Briefwechsel als Textgrundlage hat. Im deutschen Kontext würde man bei einem solchen Titel unweigerlich an den Film Das Schweigen der Lämmer denken und folglich etwas Ironisches und Wüstes erwarten, in dem sich Regisseur und Schauspieler gierig und zynisch über die wohlfeilen Schlagwörter des Kommunismus hermachten. So ist das erste, was an Il Silenzio dei Communisti überrascht, die große Ernsthaftigkeit, mit der hier die Geschichte der italienischen kommunistischen Partei auf ihre neuralgischen Punkte hin befragt wird. Was steht hinter dem Schweigen der italienischen Kommunisten, deren Anhängerschaft doch einst in Italien ein Drittel der Bevölkerung umfasste, das hat sich Vittorio Foa bei der Wahl Berlusconis gefragt und sich darüber brieflich mit den Parteiveteranen Miriam Mafai und Alfredo Reichlin verständigt. Das Buch ist in Italien bereits vor drei Jahren erschienen; Ronconi hat daraus nun eine Bühnenfassung gemacht, die die "Literarizität", das Schriftlich-Formelle der Vorlage noch betont: Die Briefe werden als Monologe aufgeführt, von drei verschiedenen Schauspielern in drei verschiedenen Räumen. Statt der Bühne bewegt sich der Zuschauerblock vor diesen Räumen hin und her, was das szenische Geschehen noch zusätzlich statisch erscheinen lässt. Interessant und spannend wird das Ganze dadurch, dass die drei Schauspieler, die die Briefe von Foa, Mafai und Reichlin rezitieren, zwar Figuren darstellen, aber nicht die "wahren" Autoren des Textes nachmachen. Zum einen sind sie sichtlich jünger; zum anderen erscheinen sie zugleich als Leser und Interpreten des Textes, als ideale Medien der Vermittlung: da ist der typische italienische Intellektuelle, mit Pullover überm Hemd und der obligatorischen Cord-Jacke; da ist die engagierte Frau mit uneitel hochgesteckten Haaren und der Aura des optimistischen Zupackens; und da ist schließlich der leicht aristokratisch angehauchte Geistesarbeiter, dessen Grundhaltung das Zweifeln ist.

Das Statische und rein Rezitatorische des Abends brachte einige Zuschauer regelrecht in Rage: Was hat das mit Theater zu tun? Die reden ja noch nicht mal miteinander! Andere fühlten sich zutiefst bewegt und angeregt von der konzentrierten Auseinandersetzung mit der "linken Geschichte" Italiens, in der von der schwierigen Gratwanderung der KP zwischen Revolution und Anpassung die Rede ist, vom eigentümlich Verhältnis zur Sowjetunion und noch eigentümlicheren zu Craxis Partei der Sozialisten. Aber nicht nur Vergangenes wurde aufgearbeitet: Das heutige Schweigen der Kommunisten, so geht aus den Briefen hervor, hat unmittelbar zu tun mit der gegenwärtigen Krise der Arbeit und den Prozessen der Globalisierung, auf deren Grundlage die zentralen Begriffe der Linken neu definiert werden müssen. Solche Sätze könnten zwar in beliebigen Diskussionsrunden fallen, in den Räumen des Theaters, als "inszenierte", erhalten sie jedoch eine zusätzliche Dimension, eine Geschichtlichkeit, die sie auch für den "außenstehenden" Zuschauer bedeutsam macht.

Eine andere Geschichtlichkeit ließ sich bei Oskar Korsunovas Meister und Margerita-Inszenierung entdecken, mit der der Litauer bereits vor einigen in Berlin gastierte. Einerseits kann man noch immer die furiose Umsetzung des Romans bewundern, die souverän nicht das sich anbietende Szenische der Vorlage herausarbeitet, sondern die Schicht darunter, das Theater des Unwohlseins und des Grauens, das unter Bulgakows karnevalistischer Oberfläche lauert. Andererseits versteht man mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer weniger, warum ausgerechnet dieses Werk als Schlüsselbuch des Stalinismus und real-existierenden Sozialismus gehandelt wurde.

Viel spannender dagegen war Korsunovas neue Inszenierung eines Stücks der russischen Brüder Oleg und Vladimir Presnyakov, die in ihrer Heimat als Kultautoren gelten. Playing the Victim machte klar, warum: Bis zum Überdruss perfekt verstehen sich die Brüder auf jenen coolen Mix aus ein bisschen Hamlet, ein bisschen Boulevard, immer zickenhafte Frauen und meist beklagenswerte Männer, dazwischen Musik, die wie Rammstein auf russisch klingt. Hauptfigur Valja arbeit bei der Polizei und stellt bei Verbrechensrekonstruktionen das Opfer dar - daher der Titel. Im bunten Potpourri taucht vieles auf, was den russischen Alltag heute so ausmacht: Das Gefälle von arm und reich, männlich und weiblich, russisch und kaukasisch und dazu noch die vielen Wechselfälle der über den Globus marodierenden Konsumkultur von der Sushibar bis zum Fitnessstudio. Auch wenn man als Zuschauer nicht weiß, womit es den Autoren wie dem Regisseur bei aller Ironie noch ernst ist, so ist man doch froh, dass das Stück den Zugriff auf die Gegenwart versucht.

Genau dieses Gefühl nämlich fehlte sowohl bei den beiden Inszenierungen, die sich mit Harold Pinters Texten befassten, als auch bei den vielen Vorträgen, die seinem Werk gewidmet waren. Vor allem letztere entpuppten sich als fast endlose Reihe von Respektbezeugungen und mehr oder weniger akademischen Ehrerbietungen, die dem Nobelpreisträger hinterhergetragen wurden, ohne wirklich ersichtlich zu machen, weshalb sein Werk mit dem europäischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde. Allerdings war diese Entscheidung zu einer Zeit gefallen war, als Pinter noch nicht durch Nobelwürde geadelt war und man damit ein Zeichen setzen wollte für ein durchaus unbequemes Werk, das politisches Engagement mit Poetik verband. (Pinter: Passion, Poetry and Politics lautete nicht umsonst der Titel des Symposions). Dass Pinter selbst bei seinen öffentlichen Auftritten in Turin lieber über Persönliches (seinen Kampf mit verschiedenen Krankheiten, die ihn in Todesnähe brachten) und über Politisches (die Außenpolitik der USA) redete als über seine Dramatik, gab der Veranstaltung den melancholischen Charakter eines Abschieds: Im Übrigen sei er der Meinung, mit 29 Stücken genug für das Theater geschrieben zu haben.


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