„Russian Doll“ auf Netflix: Zeitreise zu den Ahnen

Streaming Natasha Lyonne versetzt sich in der zweiten Staffel von „Russian Doll“ in die Rolle ihrer Mutter und Großmutter – deren Schicksal sie verbessern will
Ausgabe 17/2022

Für Netflix war es noch die selige Zeit des steilen Wachstums: Im Frühjahr 2019 war Natasha Lyonnes Russian Doll (Matrjoschka) einer jener Überraschungshits, die dem Streamingportal den Glanz von Independent-Film und „Autoren-Fernsehen“ verliehen. Für Lyonne selbst markierte die Serie eine Renaissance: weg vom Image des 90er-Jahre-Teeniestars und dem Rollenfach der sexerfahrenen Jessica aus den American-Pie-Filmen, hin zum Prestige des kreativen Multitalents: Für Russian Doll zeichnet die inzwischen 43-jährige New Yorkerin als Autorin, Produzentin, Hauptdarstellerin und immer wieder als Regisseurin verantwortlich. Die Serie ist so sehr ihr Ding, dass nun in Staffel 2 noch mehr als schon in Staffel 1 ihr eigener biografischer Hintergrund ins Spiel kommt. Ihre Großeltern mütterlicherseits sind ungarisch-jüdische Holocaust-Überlebende. Und so begibt sich Lyonne ganz buchstäblich in deren Fußstapfen.

Damit ist auch die Antwort geliefert auf die notorische Frage nach dem „Musste das sein?“, die der immer schon aller Fortsetzungen überdrüssige Seriengucker so gerne stellt. Staffel 1 von Russian Doll war so wunderbar in sich abgeschlossen, eine spielerisch-virtuose Variation des Und-täglich-grüßt-das-Murmeltier-Themas, bereichert um ein Stück weiblicher Lebensweisheit, dass man sich eine Fortsetzung nur als Spoiler vorstellen konnte. Und nun geht es, wieder sehr lebensweise, eben genau darum: dass alles Erreichte im Leben auch wieder „gespoilert“ wird. Nicht selten durch Dinge, über die wir keine Kontrolle haben, weil sie passiert sind, bevor wir geboren wurden.

Äußerlich hat sich wenig verändert: Die von Lyonne verkörperte Nadia Vulvokov stapft noch immer im Militärmantel durch New York, den Kopf leicht eingezogen unter der eigenen roten Lockenpracht und meist mit Zigarette in Hand oder Mund. Ihr 40. Geburtstag steht bevor und vor Treppen und Straßenübergängen zuckt sie immer leicht zurück, eingedenk der vielfachen Tode, die sie anlässlich ihres 36. in Staffel 1 hier schon gestorben ist. Aber diesmal kommt es anders. An der 77th Street steigt sie in die U-Bahn – und wundert sich, dass im Waggon geraucht wird, ein Mann in Travis-Bickle-Montur rumsteht und Werbung für das Musical Cats und den Film Sophies Entscheidung die Wände schmückt. Sie schnappt sich eine Zeitung und muss feststellen, dass sie im Jahr 1982, ihrem Geburtsjahr, gelandet ist. Statt Murmeltier also Quantum Leap – Zurück in die Vergangenheit. Statt Zeitschlaufe Zeitreise.

Ganz ähnlich wie in Staffel 1 setzt Lyonne den etablierten Film-Topos gleichsam als Grammatik ein: Sowohl ihre Figur als auch die Zuschauer kennen sich aus mit den Vorteilen und Fallstricken der Zeitreise. Es werden keine dummen Fragen über das Was und Wie gestellt. Nadia weiß, dass sie eigentlich nichts ändern kann, aber das hindert sie nicht, es doch zu versuchen. Wie schön wäre es doch, eine weniger verzweifelte Mutter gehabt zu haben! Und als da die Wiedergutmachung nicht gelingen will, arbeitet sie sich weiter vor: ins New York der 60er-Jahre, wo ihre Großmutter die Sorge umtreibt, die Nazis könnten wiederkommen. Und dann noch weiter zurück, ins Budapest der 40er-Jahre, wo sie kühn versucht, den Familienschatz vor dem Zugriff der ungarischen Kollaborateure zu retten ... Und zwischendurch stiftet sie dann noch ihren Zeitschlaufen-Bekannten Alan (Charlie Barnett) dazu an, es auch mal auszuprobieren mit der Zeitreise per U-Bahn-Waggon. Alan landet im Jahr 1962, in Ostberlin!

Für nur sieben halbstündige Folgen ist das eine Menge Stoff. Und da die Zeitreisen, eben nach der Quantum-Leap-Grammatik, damit verbunden sind, dass Nadia und Alan in die Körper ihrer Vorfahren schlüpfen, ist es auch visuell ziemlich „messy“. Nadia sieht sich in den Spiegeln der Vergangenheit mal als ihre eigene Mutter Nora (Chloë Sevigny), mal als Großmutter Vera (Irén Bordán) und wird so auch von der jeweiligen Umgebung angeguckt. Der Zuschauer sieht aber weiter Natasha Lyonne beziehungsweise Charlie Barnett. Alan übrigens fühlt sich so wohl wie noch nie in seinem Leben im Körper seiner Großmutter, die als ghanaische Auslandsstudentin im strengen Ostberlin ihre erste große Liebe erlebt.

Alans Geschichte kommt zu kurz, das ist am Ende dieses „Trips“ (denn so fühlt es sich wieder an) aber die einzige Kritik, die festzuhalten lohnt. Alle anderen Einwände verlieren sich im wunderbaren lyonneschen Chaos auf so philosophische wie melancholische Weise.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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