Viele kennen das Eigentor nur als Metapher: Anders als beim bloßen Sich-selbst-im-Weg-Stehen oder Über-die-eigenen-Füße-Stolpern hat das Eigentor die unangenehme Eigenschaft der gegnerischen Opposition direkt Punkte einzubringen. Es tut deshalb besonders weh, es beschämt. Besonders, weil es so leicht ist, den Schuldigen auszumachen.
Die Fußballeuropameisterschaft bot dieses Jahr überreiche Gelegenheit, dafür Anschauungsbeispiele zu finden. Vom unglücklichen Timing einer einzigen Körperbewegung bis zur aktiven Konfusion darüber, wohin der Ball geschossen gehört, war alles dabei. Tatsächlich fielen in dieser einen Europameisterschaft mehr Eigentore als in allen bisherigen zusammengenommen. Und kaum dass die Portugiesen beim Spiel gegen Deutschland die Marke „Zwei Eigentore in einem Spiel bei einem großen internationalen Turnier“ rissen, wurde der neue Rekord vier Tage später von den Slowaken im Spiel gegen Spanien eingestellt.
Was war da los? Wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann das, dass man Statistiken auf die tatsächliche Vergleichbarkeit ihrer Daten abklopfen muss. Nein, es ist kein neuer Ball im Spiel. Verschwörungstheorien darüber, dass ein Geheimchip ihn steuert, kamen bislang auch kaum auf, was damit zu tun haben könnte, dass amerikanische Billionäre sich in der Regel wenig für Fußball interessieren. Dann wiederum sind da die harten Zahlen: Die Menge der Beteiligten hat sich vervielfacht. Von 1960, dem ersten Mal, bis 1976 bestand der Wettkampf aus einer Endrunde unter vier Mannschaften; erst 1980 wurde auf acht Teams ausgeweitet, und erst 1996 auf 16. Dass wie in diesem Jahr 24 Nationen teilnehmen, ist zum zweiten Mal der Fall.
Hinzu kommt das dem Fußball eigene Beobachtungsparadox. Soll heißen: Moderne Aufnahmetechniken machen es zwar möglich, den Spielzug aus immer mehr verschiedenen Winkeln zu betrachten, von rechts und links, von oben und von vorne, in slow motion, in Fern- und in Nahaufnahme, und trotzdem gibt es da auf dem Platz, während des Spiels immer noch etwas, was sich der Beobachtung radikal entzieht. Denjenigen als Schützen anzugeben, der als letzter Kontakt mit dem Ball hatte, entspricht jedenfalls in feiner Analogie zur Vorherrschaft der Algorithmen einem äußerst technokratischen Blick auf das Spiel. Schaut man sich die diversen Youtube-Videos legendärer Eigentore an, kommt einem der Gedanke, dass frei nach Tolstoi die glücklichen Tore einander schon kaum gleichen, die Eigentore aber in ihrem Unglück wirklich alle sehr verschieden sind.
Was sagt die Statistik über Langzeitfolgen? Nicht mehr, als dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mannschaft trotz Eigentor gewinnt, etwas geringer ist. Eine andere Statistik will wissen, dass sich der Eigentorschütze nach seinem Fehler oft besonders einsetzt und weitere, glückliche Tore erzielt. Ein besonders kurioses Beispiel dafür bietet das Spiel Aston Villa gegen Leicester City von 1976, das 2:2 endete, wobei alle vier Tore den gleichen Schützen haben: Chris Nicholl. In echter Alleinunterhaltermanier verteilte der Mittelfeldspieler seine Tore sowohl über die Zeit als auch über den Platz: Das erste Eigentor nach 15 Minuten glich er kurz vor der Halbzeit aus; in der 53. brachte er dann die gegnerische Mannschaft erneut in Führung , um dann in der 86. das Remis abzusichern. Das politische Gegenstück, für das Nicholls Tat als Metapher herhalten könnte, muss erst noch gefunden werden.
Kommentare 5
Toll, Stoj! Pflichtmitteilung fehlt: die deutsche Angst vor Anna Coronanina bei der EM.
Bisher blieb völlig unbeachtet, dass ein deutscher Schiedsrichter mit diesem Nichtelfmeterpfiff für den Rest seines Lebens zwar an Leib und Leben höchst gefährdet wäre, aber eben doch auch absolut unsterblich.
Da nun wieder ein holländischer Schiedsrichter das Finale leiten wird und nicht mal ein russischer Linienrichter dabei ist, könnte es bei holländischer Spezialauslegung der Regeln zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Die Italiener werden einen solchen Pfiff allerdings nicht so friedlich akzeptieren wie die Dänen. Es wird spannend werden.
Eigentlich müssten natürlich die Schiedsrichter getauscht werden. Ein Deutscher muss ran. Und der müsste dann....
Ich finde es bezeichnend, dass – in typisch deutscher Manier – für Niederlagen, Eigentore, versemmelte Torchancen und so weiter immer ein Schuldiger gesucht werden muß. Die nicht sehr stark fußballaffine »Zeit« hat in der vorletzten Nummer Jogi Löw und den übermäßigen Individualismus der Grazien auf dem Feld ausgemacht. Zumindest letzteres kann ich nicht nachvollziehen. Die Deutschen haben ihre technizistische Spielweise bis zu einer solchen Perfektion perfektioniert, dass sie aus der Nummer kaum noch rauskommen. Diese Technik kann schiefgehen, wenn sie auf einen andersartigen Gegner wie Frankreich trifft, kann trotzdem gutgehen, wenn ein ähnlich anders gelagerter Gegner wie Portugal auf den Platz ist und hatte eine hohe Wahrscheinlichkeit, ins Auge zu gehen, wenn die deutsche Mannschaft auf eine ähnlich strukturierte trifft wie die der Engländer.
Was hat das Ausscheiden besorgt? Ich würde sagen: Spielpech – und ein gutes Moment Psychologie. Den Briten ist Fußball das ziemlich einzige, was ihnen vom Empire noch geblieben ist – da ist schlicht die Härte höher, vor allem, wenn es ein Heimspiel ist. Ansonsten fand ich es frappierend, wie die Jogi-Elf zwar fast in jedem Spiel zweidrittel der Zeit der gegnerischen Hälfte spielte. Bei den Chancen allerdings kam wie beim Blick auf die Uhr jedes Mal die Suche nach der perfekten Gelegenheit – Ball abgeben … Ball abgeben – Ball abgeben, und so weiter. Mein Rat wäre folgerichtigerweise der, sich eine größere Unberechenbarkeit zuzulegen. Also nicht nur Technik zu spielen – sondern auch mal unerwartet vorpreschen wie etwa ein Diego Maradona.
Sonst? Als Trainer-Nachfolger hätte ich – wegen dem gewissen Faktor Agressivität – am ehesten Jürgen Klopp favorisiert. Der leider anderweitig gebunden ist. Wie’s weitergeht? Wie immer: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
Ich finde Hansi Flick schon die bessere Wahl.
Die Spielweise der DFB-Elf unter Löw wirkte zuletzt ähnlich uninspiriert wie die des FC Bayern unter Niko Kovac, Flicks Vorgänger dort bis Herbst 2019. Flick hauchte dem kriselnden Rekordmeister dann eine offensive Spielidee ein - und erreichte die Spieler auch menschlich. Ergebnis war das zweite Triple nach Heynckes (mit dem Flick nicht selten verglichen wird).
Klopps Mission in Liverpool scheint indes noch nicht erfüllt. Nach CL-Sieg 2019 und Meistertitel 2020 soll wohl noch der FA-Cup her.
Für die Zeit nach Flick sehe ich - in einigen Jahren - eher Tuchel oder Nagelsmann auf dem DFB-Trainerstuhl.
Danke für den Beitrag, Frau Barbara Schweizerhof. Aus meiner aktiven Fussballerzeit (defensives Mittelfeld) weiss ich, daß die Angst vor dem Elfmeter, Spieler weit mehr belastet als ein Eigentor. Außer man ist eben Italiener.
Überhaupt zeigt diese EM, dass sich das Spiel in den letzen Jahrzehnten an Technik, Taktik und vor allem Tempo weiterentwickelt hat. Die Häufigkeit der Eigentore sind einem aggressiven Spiel geschuldet, wonach der Stürmer steil in den Strafraum angespielt, die Abwehr hinterläuft und von Außen scharf in den Rückraum der gegnerischen Abwehrreihe einen Spieler anschießt, und der Ball eben von diesem ins eigene Tor prallen muss. Andernfalls löffelt sein Mitspieler die Pflunze ins Netz.
Wenn sich Ereignisse verdichten (Tempo, Raum und Zeit) ist dem Zufall Tür und Tor geöffnet.
Des Deutschen System Fussball wurde hier wie auch in der WM in Russland wieder mal die Grenzen aufgezeigt. Der Deutsche meint eben es genügt, Fussball unter Disziplin zu ackern um der Konkurrenz Herr zu werden. Dabei wird vergessen, daß es sich bei diesem Sport nicht um einen Feldzug handelt, sondern nur um Fußball.
Fussball lebt und entscheidet eben die besonderen Spiele durch Kreationisten. Gerade die Italiener haben Spieler auf dem PLatz welche ein Spiel wie einen Gottesdienst begehen. Mit Inbrunst, Wille, Mannschaftsgeist und der nötigen Kreativität bis zur hohen Kunst der Schauspielerei. Die ganze Mannschaft spielt aus einem Guß wirkt gar organisch. Und wenn das Spiel auf der Kippe steht, kreiert oder inszeniert Insigne, Chiesa oder der legendäre Chielini einen Moment der das Spiel entscheidet.
Forza Italia