Die Bilder zum Erinnern

55. FILMFESTSPIELE VON BERLIN Rückblick auf ein Festival unter Vernachlässigung seiner offiziellen Höhepunkte

Eine Woche danach ist Vieles schon vergessen. Was während der Festivaltage beherrschende Themen waren, etwa die leidige Frage, ob genug Stars nach Berlin kommen, ob Festivalleiter Dieter Kosslick als Conferencier eine gute Figur macht oder inwiefern es sich um einen schlechten Jahrgang handelt, das alles kümmert heute schon niemanden mehr. Auch das Erstaunen über die Preis-Vergabe ist bereits einem Achselzucken gewichen. Wer wird sich nächste Woche nach der Oscar-Verleihung noch daran erinnern, dass es der Berlinale-Jury unter ihrem Präsidenten Roland Emmerich tatsächlich gelang, eine Entscheidung zu treffen, mit der niemand gerechnet hatte?

Groß war die Verblüffung, dass eine in südafrikanische Townships versetzte Verfilmung von Bizets Ohrwurm-Oper Carmen den Goldenen Bären erhielt. Dabei handelt es sich im Grunde um eine für die Berlinale typische Entscheidung. U-Carmen eKhayelitsha, mit südafrikanischen Opernsängern vom britischen Regisseur Mark Dornford-May auf Xhosa inszeniert, reiht sich hervorragend in eine Goldene-Bären-Tradition ein, wie sie sich unter Moritz de Hadeln geformt hat. Bevorzugt zeichnet man Filme aus, gegen die sich einfach nichts sagen lässt. Sei es, weil man sie nicht zur Gänze durchschaut - was wissen wir über Stadt-Land-Verhältnisse in Südafrika, was über die Rolle der Polizei in den Townships? Sei es, weil man sich mit dem "Kino der Anderen" gerne schmückt, um die eigene Weltoffenheit zu zeigen, seinen Respekt vor fremden Kulturen, sein Engagement für die Benachteiligten dieser Welt.

Deshalb galt bis zur abschließenden Pressekonferenz auch Sometimes in April als großer Favorit. Der Film schildert einfühlsam, bedrückend und ohne Kitsch die Geschichte des Massakers der Hutu an den Tutsi in Ruanda, gefiltert durch das Schicksal zweier Brüder. Dass es dann der inhaltlich weniger schmerzhafte, durch die Präsenz der Sänger angenehm vitale U-Carmen wurde, folgt dem für 2005 ausgegebenen Optimismus-Trend. Man will nicht mehr im Negativen wühlen, sondern das Positive hervorheben.

Aber wie gesagt, eigentlich spielt das eine Woche danach keine Rolle mehr. Was bleibt, bleiben müsste, sind die einzelnen Filme. Da hilft nur der Selbstversuch: Was haftet nach einer Woche noch im Gedächtnis?

Eingeprägt hat sich zum Beispiel Gérard Depardieu, wie er aus einem Supermarkt flieht und dabei gegen eine Glastür rennt, an der er sich die berühmte Nase blutig schlägt. Da liegt er nun am Boden, und die Frau, die er nach 30 Jahren der Trennung zurückerobern will, beugt sich in seinem Elend über ihn, dem lächerlich an einer Glaswand Gescheiterten. In Depardieus Darstellung ist alles wunderbar lesbar: der verletzte Stolz, das Gekränktsein über die eigene Hinfälligkeit, die Verlegenheit über das Entdecktwerden, aber auch die Gewissheit, dass ihm als wahrem Liebenden nichts peinlich sein muss. Catherine Deneuve spielt die Frau, der seine unwahrscheinlich treue Liebe gilt. An einer Stelle hält Depardieu ein Jugendfoto von sich und ihr in der Hand. Und es berührt auf besondere Weise, dass die Jahrzehnte alte Aufnahme der beiden zusammen echt ist. In ähnlicher Weise bleibt aus diesem Film unvergesslich, wie am Ende Deneuve am Krankenbett sitzt und anstatt ihrer üblich tantigen Hochsteckfrisur einen einfachen Kurzhaarschnitt trägt - der Anblick konnte einen bis ins Mark treffen, so ungewohnt verletzlich, so offen und lebendig sah sie auf einmal aus.

Trotz dieser wunderbaren Momente ist Les temps qui changent sicher nicht der beste Film von André Techiné. Dass die Jury ihn nicht beachten würde, war vorhersehbar. Viel bezeichnender aber ist die Tatsache, dass über solche Filme, also über das klassische europäische Autorenkino, auf der Berlinale kaum geredet wird. Hier beherrschen seit jeher die "Themenfilme" die Diskussion. Das hat dem Festival den Ruf verschafft, politisch zu sein, obwohl man eigentlich nie weiß, in welcher Hinsicht. Wobei sich nur schwer sagen lässt, ob das am Wesen der Politik liegt oder an der Scheinhaftigkeit des Anspruchs.

Wie zur Demonstration einer gewissen Unparteilichkeit gab es die Themen zudem meist in Doppelbesetzung: Zwei Filme über Ruanda ergänzten sich im Hinweis auf die Unmenschlichkeit des Massakers und die Schuld der einstigen Kolonialherren, der Belgier. Beides sind Filme, die während des Sehens erschüttern, die aber im Nachhinein ohne Wirkung bleiben, ganz so als habe man das Seinige durch die vergossenen Tränen im Dunkel des Kinosaals bereits abgeleistet. In Sometimes in April von Raoul Peck gibt es allerdings eine bezeichnende Szene, von der man sich nicht sicher sein kann, ob sie das, was sie zeigt, auch so meint: Eine Menschenmasse bestürmt verschiedene UN-Lastwagen, Hunderte von Armen strecken sich in die Höhe, um hinaufgezogen zu werden auf den rettenden Wagen. Herausgelesen von den blau Uniformierten werden aber nur Arme mit weißer Hautfarbe; ein bedrückend simples Selektionsmerkmal.

Um alternde Machthaber, die letzten ihrer Art, ging es in Le promeneur du champ de Mars von Robert Guédiguian und Solnze von Aleksandr Sokurov. Bieder der eine Film, der den späten Mitterand zeigt, avantgardistischer der andere, in dem es um die Menschwerdung des letzten japanischen Gottkaisers geht. Bei allen Unterschieden des Inhalts und der Form hinterlassen beide einen ähnlichen Eindruck. Angetrieben von jungenhaftem Sammler- und Detailinteresse betreiben sie eine Geschichtsschreibung, die sich selbst dafür bewundert, dass sie sich so nah an ihre Objekte herantraut. In beiden Filmen vermisst man deshalb einen gewissen Grad an Distanz und letztendlich an Bösartigkeit. Schließlich sollte man Machtmenschen nie zu sanft behandeln.

Auch der deutsche Faschismus wurde in zwei unterschiedlichen Facetten gezeigt, einmal in einer Widerstandsheldenapotheose, Sophie Scholl - Die letzten Tage und das andere Mal in einer Opfergeschichte, der Verfilmung von Imre Kertesz´ Roman eines Schicksallosen. Beiden Filmen wurde vorgeworfen, ästhetisch zu konventionell zu sein. Im Fall von Sophie Scholl hat die Jury durch einen Silbernen Bären für die beste Regie widersprochen, was prompt lautes Buhen der Kritiker hervorrief. Vom ungarischen Fateless hörte man nach der Aufführung kaum mehr etwas. Dabei korrigierte der ungarische einen bedenklichen Grundfehler des deutschen Films, der für viele sowieso nur durch die Mädchen-Intensität der Schauspielerin Julia Jentsch im Gedächtnis blieb: Sophie Scholl trifft im Gefängnis und vor Gericht bis auf Richter Freisler nur auf gute Menschen, die sich mehr oder weniger heimlich zum Sympathisantentum mit ihr bekennen; sogar das extra einbestellte uniformierte Gerichtspublikum senkt betroffen die Häupter ob der Schlussworte der zum Tode Verurteilten. Während der deutsche Film also die Mitte des faschistischen Regimes, seine Rechtsinstitution, mit lauter mitfühlenden Nazis bevölkert zeigt, sieht man in Fateless viele "normale" Menschen, die sich, auch ohne Nazis im eigentlichen Sinne zu sein, völlig unmenschlich verhalten. Wir wissen, dass das Letztere das historisch Verbürgte ist.

Zu Vergleichen lud auch das zweifache Täterporträt ein. Der palästinensische Beitrag Paradise now, der zwei Selbstmordattentäter in den Blick nahm und der dänische Angeklagt, in dem es um einen Vater geht, den die Tochter des Missbrauchs bezichtigt. Wie unterschiedlich die Filme gemacht sind, lässt sich an der Zuschauerreaktion ermessen. Als Täter enttarnt, büßt der dänische Vater jegliche Sympathie ein. Der palästinensische Film erspart dem Zuschauer die "Tat" am Ende. Langsam fährt die Kamera auf den bombenbepackten Attentäter im Bus zu, bis nichts anderes mehr im Bild ist als dessen Augen. Dann wird ins Weiß übergeblendet. Auf diese Weise kann Regisseur Hanu Abu-Assad die Sympathie für seine Figur erhalten, wie er auch an anderen Stellen sorgfältig weglässt, was Anstoß erregen könnte. So gibt es keine Israelis außer pöbelnden Soldaten, die palästinensischen Funktionäre sind freundlich und anständig, es wird auch keine politische Agenda diskutiert, die Streit provozieren könnte. Die Attentäter sind sympathische Slacker mit aufrechten Motiven. Man sieht sie zaudern, erfährt allerdings nie, worauf sich die Zweifel beziehen - denken sie an den eigenen Tod, an den ihrer Opfer? Paradise now eilte der Ruf voraus, kontrovers zu sein, löste dann überraschenderweise aber keine Kontroverse aus. Was damit zu tun hat, dass der Film dem Zuschauer zwar das befriedigende Gefühl gibt, etwas Wichtiges zu sehen, aber keinen Anhaltspunkt, um wirklich nachzudenken oder gar sich aufzuregen. Anders gesagt: Er wird seinem schwierigen Thema in keiner Weise gerecht.

Unter so viel Politik und Ernsthaftigkeit wirken die amerikanischen Filme wie von einem anderen Stern. Ob Paul Weitz´ Reine Chefsache oder das Will-Smith-Vehikel Hitch - nie spürte man deutlicher, dass es einen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen Hollywood und Themenfilmen. Hollywood besticht durch seine Gier, das Publikum nicht zu verstören, sondern es mitzunehmen; es nicht durch langes Schweigen zu quälen, sondern mit flotten Dialogen bei der Stange zu halten. Und manchmal, wie in den genannten Fällen, ist das weniger dumm, als man im Arthouse-Elfenbeinturm allgemein annimmt.

Eine andere Art von Erholung von den Wechselfällen des politischen Anspruchs boten zwei Filme, die sich eigentlich nur im Scherz zusammen nennen lassen, aus denen aber jeweils gleich eine Vielzahl an Szenen und Details im Gedächtnis blieben: Wes Andersons Tiefseetaucher und Tsai Ming Liangs The Wayward Cloud. Wes Andersons Film handelt mit melancholischem Humor von so kindischen Sachen wie Tiefseeforschern, Piraten und der Jagd nach einem riesigen Jaguar-Hai. Bei Tsai Ming Liang geht es nicht weniger melancholisch um so "erwachsene" Dinge wie Pornofilme, Wassermelonen als Sex-Toys und endlosen Varianten von Plastikflaschen. Dazwischen gibt es lange Einstellungen von Hausfluren und Treppenhäusern. Die moderne Gesellschaft in all ihrer anonymen Einsamkeit, Sehnsucht und Verwahrlosung sah man in keinem anderen Film treffender und berührender dargestellt.


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