Sport und Kino haben eine große Gemeinsamkeit: Sie teilen die besondere Vorliebe für Geschichten, in denen sich die Machtverhältnisse von Groß und Klein umdrehen. In beiden Sphären machen zwar die ökonomischen Realitäten den Triumph der Kleinen über die Großen immer unwahrscheinlicher. Das Bedürfnis nach David-und-Goliath-Geschichten steigt dagegen. Wovon nicht zuletzt ein Festival wie Locarno profitiert, das sich nach wie vor in der Selbstdarstellung tapfer dem "großen" Hollywood verweigert.
Wie muss es sein, ständig zu verlieren, haben sich ein paar holländische Fußballfans gefragt, als sich ihr Nationalteam nicht für die letzte Weltmeisterschaft qualifizieren konnte. Sie schauten auf den unteren Rand der Fifa-Weltrangliste und entdeckten dort zwei Länder, von deren Existenz sie noch nie gehört hatten: Montserrat, eine kleine Vulkan-Insel in der Karibik, und Bhutan, ein ebenso kleines Königreich im Himalaya. So entstand die Idee, parallel zum Finale der Besten eine Begegnung zwischen diesen Weltrangletzten zu organisieren. The Other Final, mit dem die Dokumentarfilmreihe der Semaine de la Critique in Locarno eröffnet wurde, zeigt die von vielerlei Rückschlägen begleiteten Vorbereitungen der beiden Teams auf dieses Spiel. Weder Nike noch Adidas waren zum Sponsoring bereit, und trotzdem findet am Ende die Begegnung statt. In einer Welt, in der nur noch das Große zähle und das Kleine von vorneherein als obskur gelte, sei schon das ein Triumph, sagt der Trainer aus Bhutan, gleichzeitig ein hohes Regierungsmitglied, das stolz erzählt, auch seine Majestät habe in seiner Jugend im Tor gestanden.
Die Träume der ewigen Verlierer sind nicht weniger ehrgeizig als die der Sieggewohnten, erfährt man aus diesem sich bescheiden gebenden Film, der zugleich offenbart, dass es auch im Sport keine wahre Chancengleichheit gibt. Allein der Sportsgeist selbst ist keine Frage von technischer Ausstattung und professionellem Training. Tief empfundenes Mitgefühl mit dem mehrfach geschlagenen Torhüter ("I feel so much compassion for Mr. Blake!") bringt der bhutanesiche Spielkommentator zum Ausdruck, was seine Freude über das 4:0 seiner Mannschaft hörbar dämpft. So kann nur einer sprechen, der das Scheitern, die Niederlage aus eigener Erfahrung kennt.
Der Sieg wird Bhutan nicht verändern, auch das gehört zur Kultur des Verlierens, in die The Other Final humorvolle Einblicke verleiht, die man gerne vertieft hätte. Oben auf der Rangliste ist das anders; dort kann ein Sieg Wunder wirken. Die Rede ist vom Wunder von Bern, das, wie Sönke Wortmanns Film am Ende ausdrücklich konstatiert, dem westdeutschen Wirtschaftswunder erst die nötige Antriebskraft verlieh. Zuerst also sind sie Verlierer, die Deutschen, zum einen in der Vorrunde beim beschämenden 3:8 gegen die Ungarn, zum anderen zu Hause, unter dem rußverhangenen Himmel des Ruhrgebiets, in das gerade die Letzten der Geschlagenen aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehren.
Peter Lohmeyer spielt einen von ihnen, der nach 11 Jahren eine Familie vorfindet, die ihn in der traditionellen Vaterrolle des Ernährers und Erziehers nicht mehr braucht. In der Parallelführung der "wahren" Geschichte der Weltmeisterschaft und der fiktiven des Spätheimkehrers kommt Wortmanns Film zu einer erstaunlichen These: Es war der Umschlag von autoritärer zur antiautoritären Erziehung, der sowohl den Sieg in Bern als auch den wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik bewerkstelligt hat. Unterwegs zu einer Strafaktion - Helmut Rahn hat sich betrunken - trifft Sepp Herberger auf eine Schweizer Putzfrau, die ihm sagt, er solle auch mal ein Auge zudrücken. Die Szene überzeichnet den Kolportagecharakter des Films und macht ihn dadurch für einen Moment erträglich: "Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten", ist ihr Credo der Gelassenheit, das Herberger prompt übernimmt.
Zuhause im Ruhrgebiet lernt Lohmeyer die selbe Lektion - innerhalb weniger Wochen! - und begegnet fortan seinem Sohn nicht mit Stubenarrest und Prügelstrafe, sondern mit Verständnis, positivem Feedback und vor allem: mit Gesprächsangebot. Seltsam mutet im Film das Dekor an, das aus Werbekatalogen und kolorierten Postkarten der Zeit inspiriert scheint, noch mehr befremdet jedoch diese Vater-Sohn-Geschichte, mit der 1968 für überflüssig erklärt wird: Wer hätte gegen kumpelhafte Väter, die in aller Zwiespältigkeit von ihren Kriegserlebnissen erzählen, noch rebellieren müssen? Wie unbewusst bewegt sich Das Wunder von Bern im Fahrwasser der Darstellungen, die nun vermehrt das Opfertum der Deutschen hervorstreichen. Was man im Film am meisten vermisst, ist der oben beschworene Sportsgeist, denn die einfältige Spannungsdramaturgie lässt keinen Zweifel daran: Der Sieg ist alles, eine Niederlage wäre das Nichts.
Erziehung war das Thema in den verschiedensten Filmen in Locarno. Wenn auch nicht immer im Sinne der Werte-Übertragung von Eltern auf Kinder, sondern des komplizierten Prozesses, wie jedes Individuum aufs Neue mit den Dämonen der eigenen Seele, der Aggressions- und Gewaltbereitschaft zurechtkommen muss, wie in jedem Kind sich die Menschheit noch einmal zivilisiert. In Kim Ki-Duks formvollendeten Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und wieder Frühling stehen die Jahreszeiten für verschiedene Lebensalter, in denen spirituelle Reifestufen erreicht werden. Altern ist hier ein Prozess des Loslassens - auch von den eigenen Gefühlen. Ein sehr irdisches und europäisches Gegenbeispiel dazu bildete der Wettbewerbsbeitrag 16 years of alcohol, der weniger von der Trunksucht als vielmehr von der Sucht nach Gewalt handelte. "Liebe macht abhängig, Abhängigkeit führt zu Mordgedanken," sagt der buddhistische Einsiedlermönch in Kims Film, und kann doch das Folgende nicht verhindern. Auch in 16 Years of Alcohol ist immer wieder der Zweifel daran, geliebt zu werden, Auslöser zur Sucht. Mit bewundernswerter Offenheit, wenn auch nicht ganz mit der nötigen Distanz verfilmte der Schotte Richard Jobson seine eigene Autobiografie, aus der man erahnt, dass Gewalt eine Grundbedingung der exzentrischen Lage des Menschen ist: sich in der Gewalt haben oder sich von ihr überwältigen lassen, ist die Frage.
Es ist ihr anderes Verhältnis zur Gewalt, das Frauen oft als die zivilisierteren Wesen erscheinen lässt. Das Kino macht sie bevorzugt zu Ikonen des Leidens - an männlicher Gewalt. Gleich mehrfach hat die Jury in diesem Jahr Filme ausgezeichnet, die das in den Vordergrund stellen und so in ihrer Entscheidung mehr Interesse an Politik als an Ästhetik gezeigt.
Der goldene Leopard ging an den pakistanischen Film Kamosh Pani, in dem eine Sikh-Frau im Mittelpunkt steht, die sich einst, als sie aus dem Land getrieben werden sollten, dem väterlichen Zwang zum Selbstmord entzogen hat und Muslimin wurde. Ihr Sohn, den sie nie über ihre Herkunft aufgeklärt hat, schließt sich 1979 den sich formierenden Fundamentalisten an. Am Beispiel des Sohnes gelingt der Regisseurin Sabiha Sumar eine beeindruckende Skizze dessen, wie eine "revolutionäre" Bewegung entsteht. Vorher sei er nichts gewesen, erzählt der Sohn, nachdem er sich den Gestalten mit den entschlossenen Gesichtern angeschlossen hat, jetzt höre man ihm zu.
Auch dem rumänischen Maria, ausgezeichnet mit dem silbernen Leoparden, liegt eine wahre Geschichte zu Grunde: Eine Mutter mit sieben Kindern, vom gewalttätigen Mann im Stich gelassen, weiß sich nicht anders zu helfen, als sich zu prostituieren. Erst als das Fernsehen ihre Geschichte entdeckt, wird ihr geholfen, ihre kurze Karriere als Hure wird sich jedoch als ihr Fluch erweisen. In einer grotesken Nebenhandlung zeigt der Film den launigen Freund des Ehemannes, der von weiblichen Lastwagenfahrern so lange bedrängt wird, bis auch er Geld für Sex nimmt. Was für Maria tragisch endet, ist für den Mann jedoch lediglich eine Farce.
In Gori Vatra, dem dritten Preisträger des Festivals, spielen Frauen nur Nebenrollen, aber auch hier wird der Konflikt zum großen Teil über ihre Körper ausgetragen. In einem bosnischen Grenzdorf müssen Bosnier und Serben Versöhnung üben, weil sich der amerikanische Präsident angekündigt hat. Mit Hang zur Absurde zeigt der Film, dass der Frieden eine schwere Übung ist, über die sich der Westen gern Illusionen macht, gerade weil der Konflikt, der zum Kriege führte, ein "sinnloser" ist.
Dass auch in Friedenszeiten Sex und Gewalt ein irritierendes Gemenge bilden, versuchte der ambitionierte Wettbewerbsbeitrag Dependencia Sexual zu verdeutlichen. Mit Digital-Kamera gedreht, erforscht der junge Regisseur Rodrigo Bellot aus Bolivien in mehreren Episoden das Phänomen des Machismo: Ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen wird auf der Party einer wohlhabenden Freundin verführt, der kolumbianische Cousin dazu gezwungen, bei einer Hure seine Unschuld zu verlieren, ein Bolivianer in den USA von seinen Klassenkameraden vergewaltigt. Im Splitscreen wird die gleiche Situation aus zeitlich oder räumlich verschobenem Blickwinkel gezeigt; die Figuren wechseln von einer Episode in die Nächste aus der Subjekt- in die Objektposition, aus der Täter- in die Opferperspektive. Ohne spekulativ zu werden, zeichnet Bellot das Bild einer Gesellschaft und ihrer Sexualpolitik, die Jugendliche mit diesen Erfahrungen völlig allein lässt.
Die hysterische Kehrseite zu dieser gesellschaftlichen Unfähigkeit über Sex und Gewalt zu sprechen, dokumentierte der Amerikaner Andrew Jarecki mit seinem Film Capturing the Friedmans. Ein dreifacher Familienvater wird als Abonnent von Kinderpornografie überführt. Sofort schwärmen die Ermittler aus und befragen dessen Schüler. Am Ende kommt eine Anklage zustande, die in ihrer Monströsität jede Glaubwürdigkeit sprengt. In Interviews mit der Familie und weiteren Beteiligten rekapituliert Jarecki den 15 Jahre zurückliegenden Fall. Dem Zuschauer bleibt am Schluss nur noch eine Gewissheit: dass die Wahrheit nicht zu ermitteln ist. In völligem Zwiespalt über das Gehörte und Gesehene, verlässt man diesen äußerst aufschlussreichen Film, in dem sich eine Hysterie des Kinos zu spiegeln scheint. Zuviel Sex und Gewalt zu zeigen, wirft man ihm seit seiner Entstehung vor. Auch jenseits von Hollywood ist man besessen davon.
Jane Fonda war in den ausgehenden sechziger Jahren die Sexikone der Protestbewegung. In The Weather Underground, dem Preisträger der Reihe der Semaine de la Critique, sieht man sie zu Beginn bei einer politischen Demonstration. Mit Bildern wie diesem und bisher wenig bekanntem Archivmaterial bringen die Regisseure Sam Green und Bill Siegel in schnellen Strichen das Bild der Zeit nach dem Summer of Love ins Gedächtnis zurück: der Mord der Hell´s Angels beim Rolling Stones Konzert, die Überfälle der Mansonbande, die Bilder vom Massaker aus My Lai, das Opfer des Überfalls der amerikanischen Bundespolizei auf eine Gruppe von Black Panther-Aktivisten... Für die Radikalisierung der Kriegsgegner gab es eine Fülle von Anlässen. The Weather Men nannte sich die Gruppierung, die Green und Siegel hier porträtieren. In einer Weise, die nach dem 11. September 2001 nicht mehr möglich scheint - die Interviews wurden zum allergrößten Teil davor geführt - berichten die Aktivisten von damals von ihrem Gang in den Untergrund, vom Versuch, den Krieg mittels Bombenattentaten nach Amerika zu tragen. Im Unterschied zu vergleichbaren Bewegungen in Europa war es ihnen wichtig, keine Menschenopfer zu verursachen. The Weather Underground zeigt ein doppelt unbekanntes Amerika: Die Entschlossenen von damals, die reifer, aber keineswegs reumütig von ihrer Zeit im Untergrund erzählen, und eine Gegenwart, in der sie, für deutsche Verhältnisse unvorstellbar, zum großen Teil gutbürgerliche Existenzen als Hochschullehrer führen.
Den Umschlag in die achtziger Jahre mit Yuppietum und Börsenfieber illustriert der Film ein weiteres Mal mit einem Frauenkörper: Jane Fonda begründet als Fitness-Queen mit Aerobic-Videos ein Imperium. Es versetzt dem Zuschauer einen kleinen, bitteren Schock, wie gut sich dieselbe erotische Ausstrahlung, die man eben noch für genuin rebellisch hielt, im Konformismus-Sport der Leistungsgesellschaft einsetzen lässt.
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